KOLUMNE

In unserem Haus befindet sich ein Raum, den ich nur höchst ungern betrete. Man müsste ihn mit einer Geheimtür versehen, damit kein Unbefugter je einen Blick in diese Abgründe menschlicher Sorglosigkeit werfen kann. Es handelt sich um das Zimmer unseres Sohnes.

Inunserem Haus befindet sich ein Raum, den ich nur höchst ungernbetrete. Man müsste ihn mit einer Geheimtür versehen, damit keinUnbefugter je einen Blick in diese Abgründe menschlicherSorglosigkeit werfen kann. Es handelt sich um das Zimmer unseresSohnes. Spätabends, sicher vor unerwartetem Besuch, schleiche ich im Dunkeln in diese Höhle, lasse die Rollläden herunter, hole tief Luft und mache Licht. Das Bett ist leer. Sein Besitzer gehört zu der Gattung der Nachtaktiven. Ich lege mich auf den Bauch und robbe unter die Liegestatt. Dort treffe ich auf drei einzelne Socken, jede spielerisch zu einem runden Etwas zusammengeknüllt. Die vierte wird vermutlich nach Jahren irgendwo wieder auftauchen. Bis dahin wurde ihr verlassener Partner schon längst zum Messingpolieren missbraucht. Neben den Socken schlummert ein Tennisball. Meine Hand tastet in ein Schälchen mit Möhrensalat, den es letzte Woche zum Mittagessen gab. Beruhigt stelle ich fest, dass mein Sohn ihn wenigstens zur Hälfte aufgegessen hat. Ich krieche unter dem Bett hervor und stoße gleich neben dem Schreibtisch auf eine Silberader. Viele blanke Taler leuchten mir entgegen. Sie stammen vermutlich aus der Hosentasche der Jeans, die lässig über die Armlehne eines Sessels drapiert ist. Auf dem kleinen Sofa veranstalten CDs, eine Bananenschale und leere Chipstüten ein Meeting, umgeben von einem halben Dutzend T-Shirts, jeweils zwei Stunden getragen. Ich mache die "Riechprobe" und lasse die, die nicht bestanden haben, im Wäschekorb verschwinden. Neben den Stereoboxen werde ich erneut fündig. Eine feuchte Badehose nebst Strandlaken modert vor sich hin. Im Vorbeigehen kratze ich noch ein paar Kaugummis von der Fensterbank, ehe ich mich wieder hinausstehle. Mein Mann könnte mich ertappen. Seit langem verschweige ich ihm die Existenz dieses Zimmers.

Irgendwann in der Nacht, der Zeitungsmann war bereits da, öffnet sich leise die Schlafzimmertür und eine muntere Stimme raunt: "Hi, ich bin da!" Ich gebe einen kurzen Laut von mir, bevor ich mich auf die andere Seite drehe.

Am nächsten Abend erwacht das Haus zu neuem Leben. Türen werden geräuschvoll zugeschlagen, der Fußboden bebt unter den Bässen der meterhohen Boxen, im Bad rauschen Wassermassen. Schließlich verlässt ein gepflegter junger Mann das Haus, einen gähnend leeren Kühlschrank zurücklassend. Die Schuhe sind blank geputzt, die Unterhosen nebst Socken zieren niedliche rammelnde Häschen. Das T-Shirt strahlt in makellosem Weiß. Auf der Treppe höre ich noch: "Mutti, sitzt mein Schwänzchen in der Mitte?" Das im Nacken ist gemeint. Dann höre ich nur noch das Schließen des Garagentores und das dezente, immer leiser werdende Brummen unseres Wagens. Gabriele Belker

In unserer Kolumne "Familienbande" glossieren wechselnde Autoren den familiären Alltag.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort