KOLUMNE

Vor kurzem erfuhr ich die schreckliche Wahrheit: In unserer Wohnung leben Monster. Ich hatte sie gar nicht bemerkt, doch Nicholas klärte mich mit wichtigem Gesichtchen auf. Sie kommen immer dann, wenn es dunkel ist.

Dann sitzen sie in seinem Zimmer und warten auf ihn. Deshalb, informierte er mich, kann er im Moment nicht in seinem Bett schlafen, sondern muss bei Mama und Papa kuscheln. In einem langen Gespräch von Mutter zu Sohn versuchte ich, ihn zu beruhigen. Es gebe doch gar keine Monster, und wenn doch, wären es miese Feiglinge. Jedesmal, wenn ich das Licht anknipste, seien sie weg. Aber das Krokodil unter dem Bett und der Tiger im Schrank seien immer da, widersprach der Dreijährige. Sein Vater hat mehrere Male Schrank und Bett inspiziert und außer Wollmäusen nichts Spektakuläres gefunden, dennoch beharrt Nicholas auf seiner Version. Mittlerweile sind zwei Nachtlämpchen installiert worden, um die Monster zu vertreiben. Aber offenbar hat sich das lichtscheue Gesindel mit den Funzeln angefreundet: Sie treiben weiter ihr Unwesen im Kinderzimmer. Zu meinem Leidwesen haben sie sich außerdem ein paar Freunde eingeladen. Nicholas flüsterte mir neulich zu, dass da auch Gespenster seien, vor denen er ganz viel Angst habe. Selbst der indianische Traumfänger vor dem Fenster kann die Geister nicht davon abhalten, in unserer Wohnung herumzuspuken. Und dann ist da zu allem Überfluss noch die Hexe aus Hänsel und Gretel, die mitten in der Nacht Jagd auf kleine Kinder macht und die Nicholas beharrlich verfolgt - das Märchen habe ich blöderweise einmal vorgelesen, und Nicholas liebt es seitdem heiß und innig - diese morbide Faszination für Folter und Tod kann nur ein Erbteil seiner Mutter sein. Vielleicht sollten wir ein Arsenal an Schwertern, Flitzebogen und Wasserpistolen neben dem Kinderbett aufbauen. Davor haben sie bestimmt alle Angst: Monster, Gespenster, Krokodile, Tiger und Hexen. Wenn nicht, überlassen wir ihnen großzügig das Kinderzimmer. Spätestens wenn Nicholas 18 Jahre ist, werden sie eine andere Bleibe gefunden haben. Verona Kerl In unserer Kolumne "Familienbande" glossieren wechselnde Autoren den familiären Alltag.

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