KOLUMNE

Noch bis vor Kurzem musste ich immer nach unten sehen, wenn ich meinen Sohn suchte. Doch über Nacht scheint er in die Höhe geschossen zu sein - hundert Zentimeter zeigt die Maus auf der Messlatte mittlerweile an.

Und ich habe so eine gewisse Ahnung, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis wir uns Aug' in Aug' gegenüberstehen. So wie er älter und größer wird, wächst sein Interesse für alles, was früher war. "Erzähl mir eine Mundgeschichte, als Du ein kleines Kind warst", fordert er jeden Abend beim Zubettgehen. Und Papa erzählt. Von seiner Schwester Maria, die in einen rostigen Nagel getreten war, von seinem Cousin Uli, der unreife Birnen gegessen hat (mit durchschlagendem Erfolg), von diversen Fahrradstürzen, und von dem Gewitter, das Papa überraschte und vor dem er flüchtete. Für Nicholas sind das die schönsten und spannendsten Geschichten. Nur, dass Papa und Mama einmal Kinder waren, ist für einen Dreijährigen schwer vorstellbar. Schließlich waren die beiden schon immer Eltern. Und logischerweise kann es die beiden ohne Nicholas nicht geben. Schließlich existiert der ja auch schon seit Beginn der Welt. "Und wo war ich da?", lautet also stets die etwas vorwurfsvolle Frage. "Na ja, du warst damals noch nicht da", versuchen wir zu erklären. Kann gar nicht sein, denkt sich Nicholas und hakt nach: "Wo denn?" - "Im Himmel", sage ich. "War ich da in der Luft?", will er wissen. "Ja, so ähnlich", seufze ich. "Und meine Kumpels?" - "Die auch", winde ich mich und verfluche alle Bildung dieser Welt, die einen auf solche Fragen nicht vorbereitet. Damit gibt sich Nicholas meist zufrieden. Wahrscheinlich stellt er sich vor, wie seine wilden Freunde und er den Himmel samt Christkind und Nikolaus auf den Kopf stellen. Neulich erzählte ich meinem Sohn eine "Mundgeschichte" über meine Oma, die noch Ölöfen besaß und die im Bad zuerst den Ofen mit Holz anheizen musste, bevor sie warmes Wasser für ein Bad einlassen konnte. - Eine schier unvorstellbare Geschichte! - "Mama", bohrte Nicholas vorsichtig nach. "Mama, gab es da auch noch Dinosaurier?" Hmmh. (Räusper, räusper.) So viel zum Thema Vergänglichkeit. Verona Kerl In unserer Kolumne "Familienbande" glossieren wechselnde Autoren den familiären Alltag.

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