Liebenswerte Problemfälle

WITTLICH. Wo kommt es her, wo führt es hin, und was kann man dagegen tun, wenn die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizitssyndrom ADS im Raum steht? Viel, sagt einer, der es wissen muss. Aber: Ohne Konsequenz geht gar nichts - und die muss nicht nur sinnvoll und unermüdlich, sondern auch noch liebevoll sein.

Hans Biegert leitet eine Privatschule in Bonn, in der sich regelmäßig Fachleute mit der Problematik von hyperaktiven Kindern befassen. Wobei die Ausprägungen des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms auch gerade gegenteilig in Form von "Träumerchen" zu Tage treten können. "Das macht die Diagnose und den Umgang mit ADS natürlich nicht einfacher", sagt der Fachmann. Fest stehen jedoch inzwischen mehrere Tatsachen. Die Anlage zu ADS wird zu etwa 40, vielleicht auch 50 Prozent genetisch mitgebracht, was weltweite Forschungen an gleich nach der Geburt getrennten, eineiigen Zwillingen belegen. Alles weitere prägt die Sozialisation der betroffenen Kinder: Die Arbeit lohnt sich also, wie Biegert als Pädagoge hoffnungsvoll zur Kenntnis nimmt. Zur Welt kommt ein ADSler wie jedes andere Menschenkind: mit kaum vernetzten Gehirnzellen. Im Frontalhirn eines ADSlers geschieht dann jedoch aufgrund einer neurobiologischen Störung etwas grundlegend anderes: Bei ihm unterbleibt die für das Erlernen diverser Überlebensmechanismen notwendige Vernetzung. Das tragische Dilemma: Für die Entwicklung jeder Hirnregion stehen nur sehr konkrete Zeitfenster zur Verfügung; was bis zu einem gewissen Alter nicht strukturiert und vernetzt ist, bleibt auch später so.Langes Diskutieren oder Ausflippen bringt nichts

Und da für jedwede Art von Lernen ein gehörig Maß an Erfahrung unerlässlich ist, muss jede Mutter, jeder Vater, jeder Lehrer eines ADSlers mit besonderen Techniken an dieses Kind herangehen. Diese Techniken müssen mit unermüdlicher Konsequenz, nicht mit Härte, immer wieder angewandt werden, um das Kind genau die positiven Erfahrungen machen zu lassen, die ihm bisher in seiner Entwicklung fehlen. Und bei ausgeführtem Auftrag: Loben, bestätigen, ermuntern, damit auch das eigene Selbstwertgefühl wachsen kann. Ein Grundfehler im Umgang mit Regelverstößen bei solchen Kindern sei langes Diskutieren, ein anderer das Ausflippen. "Das ist für einen ADSler besser als jedes Videospiel. Dann hat er, was er braucht: Action, Spaß, Anregung aller Sinne." Die Erfahrung ausflippender Eltern und Lehrer ist allerdings keine seiner Entwicklung zuträgliche, und solche negativen Erfahrungen summieren sich bei den meisten tagtäglich zu etwas auf, was zunächst zu sozialer Ablehnung innerhalb des Freundeskreises führt, später zu Misserfolgen in der Schule, und noch später auf Sonderschulen, in Arbeitslosigkeit und Gefängnisse. Obwohl allem Anschein nach der Intelligenzquotient innerhalb der ADS-Population ein höherer ist als beim Rest der Bevölkerung. Biegert betonte, dass das anstrengende Verhalten von ADS-Kindern - laut, chaotisch, sich selbst gefährdend oder eben desinteressiert und verträumt - keinesfalls als Böswilligkeit gedeutet werden dürfe. Eine intensive pädagogische Führung sei unerlässlich, die Übungen sollten auf hohem Niveau liegen. "Ich empfehle einen Gestik-Mimik-Blickkontakt neben der üblichen Ansprache." Zusätzlich sei Anfassen oft sehr wirksam.Konkrete Anweisungen statt alberne Fragen

Kurze, exakte Anweisungen wie "Hänge bitte deine Jacke auf - jetzt" bringe mehr als die alberne Frage "Willst du jetzt vielleicht deine Jacke aufhängen?" Hat ein ADSler einen solch klar strukturierten, Sicherheit vermittelnden Rahmen (zuhause und in der Schule), kann er die Erfahrungen nachholen, die zur Vernetzung des Frontalhirns fehlen. Statt mit der typischen Angst, Rebellion, Aggression oder Depression reagiert er dann mit Kooperation - wie alle anderen Kinder auch. "Nichts ändert sich, außer wir ändern uns." Diesen Leitspruch legt Biegert allen Eltern, Lehrern und Bezugspersonen wärmstens ans Herz. Die Selbsthilfegruppe Juvemus organisierte den Biegert-Vortrag mit anschließender Diskussion im Cusanus-Gymnasium in Wittlich in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule. Ansprechpartnerin: Kerstin Baden, Telefon 06578 / 992062. Internet-Adresse: www.juvemus.de.

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