Mehr als nur Gekritzel

Beim Frühstück drückt Jonas den Finger in die Butter und zieht fettige Linien und Kreise über den dunklen Holztisch. Das Kind ist fasziniert von den Spuren, die von ihm stammen und im Gegensatz zu Lauten und Klängen überdauern — zumindest so lange, bis Mama mit dem Lappen die klebrige Hinterlassenschaft wieder wegwischt.

Köln/Trier. Butterflecken auf dem Tisch sind Vorstufen des Malens und Zeichnens. Denn bevor ein kleines Kind in der Lage ist, einen Stift oder Pinsel zu halten, drückt es sich über das Schmieren mit der Hand aus. Später kommt das "Krickelkrackel" mit dem Stift hinzu. Das dient ihm neben dem Sprechen als Weg, seine Erfahrungen auszudrücken. "So können Eltern in den rotierenden Bewegungen der Zeichenhand vielleicht das rotierende Raumgefühl wiedererkennen, das ein Kind im Mutterleib unbewusst als seine Lage im Raum empfindet", sagt Antje Steudel, Diplom-Pädagogin an der Universität Köln. Beim Kritzeln, das auf das Schmieren folgt, spielen Auge und Hand zunehmend zusammen, erläutert Steudel die weitere Entwicklung. "Verstärkt werden die Zeichen auf dem Papier mental kontrolliert."Später fügen Kinder den Zeichnungen einen Sinn bei

Etwa ab der Mitte des zweiten Lebensjahrs fügen die kleinen Künstler ihren Zeichnungen auch einen Sinn bei. Aber "diese Bedeutungsebenen sind zunächst noch instabil", hat Steudel beobachtet. So wird aus dem, was zunächst ein Auto sein sollte, möglicherweise eine Schlange, oder das Kind deutet es später als Flugzeug.Über die Darstellung von Erfahrungen hinaus kann das Zeichnen dem Kind helfen, "seine Wahrnehmung zu ordnen", erklärt Steudel. "Indem es sie darstellt, bringt es sie in eine bestimmte Ordnung. Solche Ordnungen sind der Beginn von Bildung."Der Psychologe-Professor Martin Schuster sieht noch einen anderen Aspekt im kindlichen Malen: die "Problem-Bearbeitung", die dabei stattfindet. Weil das Kind das Zeichnen therapeutisch nutzen könne, sollten Eltern darauf achten, dass Jugendlichen die Möglichkeit zum Zeichnen immer gegeben ist, rät Schuster.Die enorme Bedeutung der Kreativität als Begleitung von Bildungsprozessen in der frühen Kindheit unterstreicht auch Daniela Braun, Professorin an der Fachhochschule Koblenz. Sie bedauert, dass in der Bildungsdiskussion die Bedeutung der Kreativität zu weit hinter naturwissenschaftliche, mathematische und sprachliche Bildung gerückt sei. Dabei sei Kreativität im Sinne einer "schöpferischen Tätigkeit, die Neues hervorbringt", für die Lebensbewältigung unerlässlich. Denn die damit einhergehende Fähigkeit, Lösungen zu finden, sei unabdingbar in der postmodernen Gesellschaft, in der sich der Familienbegriff wandelt, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen, multikulturelles Zusammenleben Herausforderungen und Chancen aufbietet und das Berufsleben mobile und flexible Arbeitnehmer erfordert.Daher plädiert Braun dafür, die "Entwicklung einer kreativen Persönlichkeit zu unterstützen". Kinder bringen die besten Voraussetzungen mit: "Kindliche Weltoffenheit, Neugier und Wissbegier, die Fantasie des Kindes im Spiel und seine Beharrlichkeit beim Ausprobieren und Lernen deuten auf ein hohes kreatives Potenzial hin", sagt Daniela Braun. Sie appelliert, die Förderung von Kreativität als Bildungsaufgabe ernstzunehmen. In Kindertages-Einrichtungen müssten ästhetisch-künstlerische Aktivitäten, sofern sie vielfältig sind und ungewöhnliche Problemlösungen zulassen, eine zentralere Bedeutung bekommen.

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