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3Noch heute zuckt meine Tante Gertrud zusammen, wenn sie das Wort "Gegenverkehr" hört.Auch hatte mein Onkel zusätzliche Maßnahmen ergriffen, den Kampf ums langsamste Großserienfahrzeug für sich zu entscheiden.

Indem er sich eine Automatik einbauen ließ, gelang es ihm, die Fahrwerte in unvorstellbare Höhen zu schrauben. Von 0 auf 100 in handgestoppten 41 Sekunden. Für die Elastizität- die Beschleunigung von 80 auf 120- liegen leider keine Werte vor, da der Versuch meines Vetters, diese zu ermitteln, in einem Straßengraben bei Kastellaun endete.Meinen Onkel ließen solche Zahlenspiele kalt. Hauptsache Automatik! Er, der im Beruf die 60-Stunden-Woche praktizierte, verweigerte fern seines Arbeitsplatzes jegliche Anstrengung. Schalten gehörte zu jenen Tätigkeiten, mit denen sich ein frisch ernannter Außendienstleiter nicht länger abzugeben hatte. So wurde der Mercedes zum Sinnbild seines Aufstiegs.Auch erwies sich der Wagen als wirksamer Schild in der Abwehr von Widersachern. Jede Stern-Fahrt wurde zum Triumphzug durch Feindesland. Die anderthalb Tonnen Metall, in die er Tag für Tag stieg, waren sein Harnisch gegen eine Welt, deren Unberechenbarkeit sich bereits im Berufsverkehr zeigte. Da versuchten wild gewordene Enten, ihn von der Seite anzurempeln, oder tollwütige Käfer, ihm ins Hinterteil zu zwicken. Sein alter Ford Taunus war auf diese Weise zur blechernen Narbenlandschaft geworden, Zeugnis des täglichen Gefechts mit angriffslustigen Verkehrsteilnehmern.Der Mercedes hingegen ließ alle Attacken souverän an sich abprallen. Ein aufdringlicher Fiat 500 verlor an dessen Stoßstange die Schnauze, und ein todesmutiger Mini Cooper, der sich die Vorfahrt zu erzwingen suchte, musste sein Kamikaze-Unternehmen mit der Schrottpresse bezahlen.Mein Onkel aber gewann mit jedem Scharmützel an Selbstsicherheit. Die durch nichts zu beeindruckende Karosserie gab ihm ein Gefühl von Unverwundbarkeit. Es war, als gönne ihm das Leben eine Auszeit. Als könne er in jenem Kampf, den er seit seiner Kindheit führte, endlich eine Verschnaufpause einlegen. Vorbei der Nachkriegshunger! Vorbei das Ringen um seinen gesellschaftlichen Ruf, der darunter gelitten hatte, dass er als Achtzehnjähriger einer Siebzehnjährigen einen dicken Bauch gemacht hatte! Vorbei auch der steinige Weg nach oben, den er nie als Wirtschafts-"Wunder" empfunden hatte, sondern immer nur als Ochsentour!Ja, er hatte- verdammt noch mal!- ein Recht darauf, stolz zu sein. Einen Gang zurückzuschalten. Und selbst das erledigte die Automatik für ihn. Er hatte es mit seinem Talent weit gebracht. Gute Gene. Von meinem Opa mochte er die scharfen Augen und die feine Nase geerbt haben, doch wichtiger war das Vermächtnis meiner Oma: das Mundwerk. Die Gabe, den lieben Mitmenschen seinen Willen aufzuzwingen.Dieselbe Überzeugungskraft, die bewirkt hatte, dass sich ein hochreligiöses in ein hochschwangeres Mädchen verwandelte, kam ihm im Beruf zugute. Er machte Karriere als Vertreter für Wellpappe. Ich glaube nicht, dass ihn das Produkt sonderlich interessierte. Er hätte, wenn es verlangt worden wäre, auch Vegetariern Gänsestopfleber verkauft. Denn alles, was er über das Leben wissen musste, hatte er als Elf-, Zwölfjähriger auf dem Schwarzmarkt gelernt. Wie man Waren so bewirbt, dass sie Mondpreise erzielen.Natürlich hätte es meine Tante stutzig machen müssen, dass er, der stets in Eile war, der immer "grad noch eben" ein Geschäft abschließen musste, plötzlich die Entschleunigung entdeckte. Die Wahrheit ist: Sein Wagen diente der Tarnung. Er sollte den Eindruck erwecken, sein Besitzer sei ein braver Familienvater, dessen "Exzesse" sich darauf beschränkten, beim Sonntagsausflug drei Stück Torte zu vernaschen. Der Strichacht schützte ihn vor Klatsch und Tratsch. Er war ein Panzer gegen die Neugier.Und eine Droge, die meinen Onkel in einen anderen Menschen verwandelte. Er glitt, kaum dass die Fahrertür mit einem fetten Klack ins Schloss gefallen war, in einen Bewusstseinszustand hinüber, den andere erst durch jahrelanges Kiffen oder ausgedehnte Übungen im Zen-Buddhismus erreichen. Er setzte ein Lächeln auf, selig und entrückt, als führe ihn der Daimler schnurstracks ins Nirwana.Nichts und niemand konnte ihn aus dieser für ihn so untypischen Gleichmut herausreißen. Fortsetzung folgt.Das Buch "Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage" ist in allen TV-Pressecentern für 19,90 Euro erhältlich.

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