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84Dieses unsagbare Empfinden, von dem sie geglaubt habe, es nie mehr in ihrem Leben spüren zu müssen, sei in ihr emporgestiegen, als sie sich für kurze Zeit vorgeworfenhabe, Schuld an einem schweren Verkehrsunfall zu sein, der drei Menschen in den Tod gerissen habe.

Gleichwohl sei sie über diese Phase zwischenzeitlich längst hinweg, ein guter Freund habe ihr bei der Bewältigung des Problems geholfen, und schließlich sie sich selbst, indem ihr klar geworden sei, dass sie diese Schuld nicht tragen müsse, weil es keine Beweise dafür gebe, dass sie tatsächlich die Verursacherin dieses bedauernswerten Malheurs gewesen sei.

Als Paul die Hand von ihrem Bauch nahm und seinen Blick starr zur Decke richtete, erhielt Kommissar Faust einen Anruf. Es war einer der beiden Kollegen aus Euskirchen, die zwischenzeitlich auf ihre Dienststelle zurückgekehrt waren, nachdem die Staatsanwaltschaft den Haftbefehl gegen Peter Wilden aufgehoben und man ihn nach Hause entlassen hatte.

Wenn Faust Lust habe, könne er sich in seinen Dienstwagen setzen und nach Euskirchen kommen, wo zur Zeit eine Vernehmung stattfinde, die ihn sicher sehr interessiere.

Faust überlegte, was zu tun sei. Am Morgen noch war er sicher, nun rasch ans große Ziel zu gelangen. In den vergangenen Stunden aber hatte er den Tag immer stärker als eine unendliche Reise in die Bedeutungslosigkeit empfunden.

Faust war frustriert. Einmal mehr.

Ohne eine sofortige Entscheidung zu treffen, schaltete er das Licht seines Dienstzimmers aus und trat in die Dunkel- heit, leichenblass, eine Gesichtsfärbung, die inzwischen auch Paul angenommen hatte. Während er weiter zur Decke starrte, die ihm immer näher kam, wunderte er sich, dass er in diesem Moment nichts mehr fühlte, rein gar nichts. Er wusste nicht, ob sein nackter Körper warm oder kalt war, ob das, was er mit den Augen wahrnahm, wirklich die Zimmerdecke war, an der gerade zwei Fliegen aufeinander losgingen. Die Geräusche, die hörte, mussten von Kathi stammen, die weiter die Geschichte ihrer Fluchtwunden erzählte und davon berichtete, dass sie die polizeiliche Untersuchung ihres Boxster- Spiegels zwischenzeitlich als belanglose Episode empfinde, der sie temporär unnötig viel Beachtung geschenkt habe.

Auch für die mehr als umfängliche Berichterstattung in den Medien fehle ihr heute jedes Verständnis.

"Drei Tote. Ja, das ist schlimm; doch wenn man sich vor Augen hält, wie viele Menschen tagtäglich durch all die Kriege in der Welt sterben und wie viele Kinder Stunde um Stunde einem elenden Hungertod anheim fallen, relativiert sich so manches", hallte es in Pauls Ohr, der für einen kurzen Moment an seinen flach auf dem Bett ruhenden Körper herabsah, den er immer noch nicht spürte, auch dann noch nicht, als er die Beine anzog, aufstand und er sich beim Ankleiden ebenso schweigend zusah sowie beim Verlassen des Zimmers, das nun komplett im Dunkeln lag und in dem nur Kathis Körper eine Silhouette warf, die er jedoch nicht mehr wahrnahm.

Du hattest ihn verstanden, Kathi. Sein Schweigen war an dein Ohr herangetreten wie eine Anklage. Im Bruchteil einer Sekunde erinnertest du dich an das Gespräch am See, wo er von seinen Söhnen erzählt hatte, um die er sich habe intensiver kümmern wollen, wofür es jetzt aber zu spät sei. In der Euphorie der Verliebtheit hattest du auf Nachfragen verzichtet, ebenso wie er nicht in dich dringen wollte, als du deine verkorkste Jugend ins Spiel brachtest. Jetzt hattest du ihn verletzt, schlimmer noch als seine Söhne und seine Frau, weil du ihn mitten in der Seele trafst. Mit einem Schlag wurde dir klar, dass dir dein oberflächlicher Umgang mit der Schuld, den du dir so mühsam erarbeitet hattest, zum Verhängnis würde, endgültig.

Während du dich vom Bett erhobst, saß Paul schon in seinem Wagen, den er in diesem Moment von der Aachener Straße nach links auf die Autobahn abbiegen ließ, während Kommissar Faust mit Blaulicht und Martinshorn auf der A1 unterwegs war in Richtung Euskirchen.

Fortsetzung folgt.

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