Vergessen werden sie nie

TRIER. Jahr für Jahr nehmen Familien Pflegekinder auf, die vernachlässigt, misshandelt und geschunden wurden. In ihrem neuen Zuhause erfahren sie oft zum ersten Mal in ihrem Leben Liebe und Geborgenheit. Familie H. aus dem Trierer Stadtteil Irsch hat zwei Kindern ein neues Heim gegeben.

Zwischen Leben und Tod passten genau drei Stunden. Danach wäre Sarah (Name von der Redaktion geändert) gestorben. Sie wäre erst drei Jahre alt gewesen, und niemand hätte um sie geweint. Sarah war ein unerwünschtes Kind. Ihre Mutter konnte nichts mir ihr anfangen. So vernachlässigte sie Sarah, ließ sie verwahrlosen, hungern, misshandelte sie schwer. Als Sarah buchstäblich Haut und Knochen war, brachte sie der Freund der Mutter ins Krankenhaus. Gerade noch rechtzeitig. Seitdem hat Sarah ihre Mutter nie wieder gesehen. "Als wir Sarah zu uns nach Hause holten, wog sie 6,9 Kilo und war gerade einmal 70 Zentimeter groß", erinnert sich Monika Haupenthal (Name von der Redaktion geändert). "Und das nach drei Monaten Krankenhausaufenthalt." Niemand hatte die Kleine besucht. Als auch die Anrufe des Krankenhauses zu Hause erfolglos blieben, wurde das Jugendamt Trier eingeschaltet. "Es war klar, dass Sarah nicht mehr zurück nach Hause konnte", sagt die zuständige Sachbearbeiterin Inge Schöndorf. "Wir suchten Pflegeeltern für sie." Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Sarah Glück. Bei Familie Haupenthal fand sie Liebe und Geborgenheit, ein Heim. Sarah blühte auf. "Als sie bei uns ankam, konnte sie weder laufen noch sprechen", berichtet Monika Haupenthal. Doch innerhalb kürzester Zeit holte Sarah alles nach. "Unsere ganze Familie hat ihr geholfen. Jeder hat ihr etwas beigebracht und alle haben sie angenommen." Mit vier Jahren ging sie bereits in den Kindergarten. Heute ist sie neun Jahre alt und besucht die Schule. Ihre "Mama" ist Monika Haupenthal, die selbst fünf Kinder im Alter zwischen 13 und 26 Jahren hat. Monika und ihr Mann Reinhold engagieren sich seit 1994 als Pflegeeltern. Nach einem Fernsehbericht über Pflegefamilien entschieden sie sich, ebenfalls zu helfen und wandten sich ans Jugendamt. Sie besuchten Vorbereitungsseminare und Themenabende, informierten sich in einer Pflegeelterngruppe (zu der sie nach wie vor gehen) und redeten mit ihren Kindern darüber, Fremden ein Heim zu geben. Und schon bald wurden Monika und Reinhold gebraucht und gefordert. Drei Jahre Leben bei ihrer leiblichen Mutter haben bei Sarah Spuren hinterlassen. Seit Jahren ist sie in psychologischer Behandlung, bis vor wenigen Monaten hat sie eingekotet. Angesichts dessen in Mitleid oder Selbstzweifel zu verfallen ist Monika Haupenthals Sache nicht. "Man muss Pflegekinder genau so konsequent erziehen wie die anderen. Natürlich hat man Angst, ob man das alles schafft. Aber Probleme kann ich auch mit meinen eigenen Kindern haben. Ich lasse die Dinge auf mich zukommen und mache mich nicht vorher verrückt." Diese Einstellung weiß Robert (Name von der Redaktion geändert) zu schätzen. Der inzwischen 19-Jährige kam als 14-Jähriger zu Haupenthals und macht im nächsten Jahr sogar Abitur. Sechs Jahre zuvor wäre das pure Illusion gewesen. Doch Robert ist eine Kämpfernatur. Er wollte auf eigene Initiative weg von einem zu Hause, das für ihn nie eines gewesen war. "Meine Mutter ist süchtig, mein Vater lebt in Österreich. Ich besuche ihn zweimal im Jahr", erzählt er. Zeit für die Schule hatte er nicht. "Ich musste mich um meine Mutter kümmern, ihr Medikamente besorgen. Nie war etwas zu essen da. Ich habe ihr gesagt, wenn sich an der Situation nichts ändert, zieh ich aus." In der Hauptschule waren seine Leistungen schlecht. Den Lehrern fiel auf, wie verwahrlost der Junge aussah, und Robert erzählte von daheim. Schließlich bekam er vom Jugendamt einen Betreuer zur Seite gestellt, der ihm half, eine neue Familie zu finden. Dort ist er glücklich. Mit Nachhilfestunden, Willensstärke, Ehrgeiz und liebevoller Zuwendung mauserte sich der miserable Hauptschüler zu einem passablen Gymnasiasten. Ab und an besucht er seine leibliche Mutter. Rückkehr ausgeschlossen. "An der Situation hat sich nichts geändert. Manche Menschen schaffen es, aus der Sucht herauszukommen, meine Mutter nicht." Das mag kaltherzig klingen, doch Robert hat es sich nicht leicht gemacht, seine Mutter zu verlassen. "Ich hatte Schuldgefühle, aber ich habe mir immer gesagt, es ist nicht meine Schuld." Es sei wichtig für die Kinder ihre Geschichte zu kennen, und zu lernen, damit umzugehen, ist sich Inge Schöndorf sicher. Egal wie schlimm die Erinnerung ist, sie zu verdrängen hilft nicht wirklich. Irgendwann kommt alles wieder hoch.

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