Verloren im Nebel des Vergessens

TRIER. Die große Masse der etwa 1,3 Millionen Demenzkranken in Deutschland lebt im eigenen oder im Familienhaushalt und braucht tägliche Pflege. Viele Menschen leiden einsam mit Eltern und Partnern an deren schleichendem geistigen Verfall. Dabei versucht eine ganze Reihe von Institutionen die Mauer aus Scham und Hilflosigkeit zu durchbrechen - auch in der Region.

Der alte Mann beißt sich auf die Lippen. Sein Gesicht ist rot, er ist angespannt: ",Wer sind sie denn?' Wenn man so etwas zum ersten Mal hört - von der eigenen Frau, geht das wirklich an die Substanz", erzählt er. Knapp 20 Angehörige von Demenzkranken sind im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Trier zusammengekommen, um zu lernen, was Demenz wissenschaftlich bedeutet, und auszutauschen, wie sie ihr aller Leben beherrscht. Schon in der Vorstellungsrunde fließen Tränen: Die Mutter sei unheimlich aggressiv geworden, unterstelle ihnen Lug und Betrug. Der einen der beiden Töchter dieser alten Frau bleiben die Worte wackersteinschwer im Halse stecken. Sie beugt sich, erstickt in Schluchzen.Die Schuld wird beim anderen gesucht

"Besonders im relativ frühen Stadium können die Betroffenen sehr kränkend werden", stellt Johanna Reusche von der Alzheimer Gesellschaft in der Region Trier fest. Um ihre eigenen Defizite zu kaschieren, suchen die Verwirrten die Schuld oft beim anderen, erklärt die Vorsitzende des Vereins. Zu viele Angehörige blieben in ihrem Schmerz und mit der Belastung allein - aus Scham. "Die Menschen akzeptieren Alzheimer vielfach nicht als Krankheit", bedauert sie. Mindestens die Hälfte aller Demenzkranken sind Alzheimerpatienten. Neueste medizinische Forschungen erklären die immer noch rätselhafte Gehirnerkrankung durch Eiweißablagerungen, die Nervenzellen zerstören und nach und nach Größe und Struktur des Denkapparats verändern. Tatsächlich klaffen die Erinnerungslücken später wie schwarze Löcher im Alzheimer-Gehirn. Wenn neben großer Vergesslichkeit, Orientierungslosigkeit, Sprachstörungen oder ein Verlust des Zeitgefühls erlebt werden, ist - entsprechend dem Motto des Weltalzheimertags am 21. September - "Keine Zeit zu verlieren!". Die "Rückentwicklung", die "am Ende so hilflos wie ein Säugling" macht", könne mit entsprechenden Medikamenten zumindest um etwa ein Jahr aufgehalten werden, gibt Neurologe Dr. Andreas Klein vom Gesundheitsamt Hoffnung. Doch dafür müsse frühzeitig eingegriffen werden. Auch psychologische Therapien können unter Umständen Erleichterung bringen. "Doch am Ende steht immer das geistige Todesurteil", sagt der Nervenarzt. Das Risiko des Gehirn-Gaus steigt eindeutig mit dem Alter. "Die Zahl der Demenzkranken wird sich in den nächsten Jahrzehnten exponentiell erhöhen, steinalt wie wir alle werden", malt Neurologe Klein ein bei Gesundheitspolitikern nicht gern gesehenes Bild der künftigen "Generation Alzheimer". Zu dem Viertel der heute 80- bis 90-Jährigen, die neuesten Schätzungen zufolge an Demenz erkranken, gehört die Frau eines älteren Herrn aus Filsch, der Hilfe suchend zum Info-Seminar gekommen ist. Noch hätten sie eine gemeinsame Vergangenheit, sagt der kräftige Mann. "Noch", als würde ihm das Wort auf der Zunge vereisen, gefriert sein Lächeln. Der 78-Jährige ist erschreckt über die Zukunftsszenarien: Halluzinationen, Depressionen, Unruhe und Unrast, die Angehörige nächtelang wach halten. "Das Grausamste ist, wenn das Gesicht schließlich ganz leer ist", sagt Lutz Mackenberg von der Alzheimer Gesellschaft. Keinerlei Mimik wäre mehr da. Die Augen, die Fenster zur Seele, zeigten nichts. Während die Kranken in einer nach außen abgeschlossenen geistigen Restwelt ihren Frieden zu haben scheinen, leiden die Angehörigen bis zum bitteren Ende. Zum zweiten Informationstreffen für Angehörige von Demenzkranken laden Alzheimergesellschaft, Ökumenischer Sozialstation und eine Krankenkasse für 24. September um 19 Uhr ins Dietrich-Bonhoeffer-Haus, Nordallee 7-9, ein.

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