Vom Winde verweht

Küssen? Wie sich das wohl anfühlt? Monate meines Teenagerlebens beschäftigte ich mich mit dieser Frage. Ich war ungefähr elfeinhalb Jahre alt, als ich mit der Recherche zu Thema "Der Kuss zwischen platonischer Liebesbekundung und Vorspiel" begann. Küsse kannte ich bis dahin nämlich nur von meiner Oma Frieda, die mir immer einen widerlich feuchten Fleck auf der Wange und den Geruch von 4711 Kölnisch Wasser in der Nase hinterließ. Doch ich ahnte, dass Küssen mehr als das sein musste. Also begann ich mit einer heimlichen Medienanalyse. Das Problem: Im Beisein von Erwachsenen verspürte ich immer den tiefen Drang, bei Liebesszenen die Augen zu schließen. Meine Eltern sollten auf keinen Fall bemerken, dass mich dieser Teil des Films besonders interessierte. So verfolgte ich auch nur blinzelnd, wie Scarlett O‘Hara nach einem heftigen Streit, plötzlich und vollkommen unerklärlich, in Rhett Butler Arme sankt. Doch der berühmteste Filmkuss der Geschichte hatte mich etwas Wichtigtes gelehrt. Die perfekte Kusshaltung: Der Kopf der Frau fällt in den Nacken (als wäre sie besinnungslos), seine Arme umschließen ihren Oberkörper und die Augen sind geschlossen. Weitere Beobachtungen machten mir eher Angst: Film-Küsser bewegten dabei oft heftig den Kopf hin und her und stöhnten als sei ihnen schlecht.Bei dem Gedanken, meinen Klassenkameraden Knolle küssen zu müssen, wurde mir allerdings auch tatsächlich übel. Aber was tut man nicht alles im Namen der Wissenschaft. Und so kam es, dass bei einer Klassenfahrt die erste ernsthafte Gelegenheit auf mich wartete. "Asse ziehen" hieß das Spiel, eine abgewandelte Form von Flaschendrehen. Im Grunde war keiner der männlichen Mitspieler der Traum meiner schlaflosen Nächte. Aber nun gut. Die Asse wurden gezogen und mein erster Volltreffer war: Knolle. Ich werde nie vergessen, wie er seine Schokoladen verklebten Lippen auf die meinen drückte und sich danach ein langen Speichel-Faden von meiner Lippe zu seiner zog. Ich glaube, zwei Tage später bekam ich meinen ersten Herpes. Irgendetwas war falsch gelaufen. Dabei hatte ich doch extra auf meinem Handrücken geübt. Ich entschied mich zu einem Experteninterview. Meine Cousine Susanne war bereits 14, und abgesehen von der Körbchengröße unterscheiden wir uns vor allem im Ausmaß unseres Erfahrungsschatzes. Susanne verriet mir ein Geheimnis: Zu einem leidenschaftlichen Kuss gehört die Zunge. Wenige Wochen später bekam ich endlich eine neue Chance: Zeltlager, ich, Sonja und Lea im Zelt von Matze, Erik und Mike: Das Spiel: Flaschendrehen. Mein ausgewähltes Opfer: Mike, 15 Jahre alt, blond, sowas von gutaussehend und ein echter Mann. 20 Runden lang drehte die Flasche, immer wieder Zentimeter an Mike vorbei. Dann, endlich... Ich weiß nur noch wie mich das angespannte Schweigen der Zuschauer auf meinem Weg zu Mikes Luftmatratze begleitete. Besinnunglos ließ ich mich wie Scarlett O'Hara in Mikes Arme fallen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Oh Rhett, hörte ich mich in Gedanken sagen und dann küsste er mich richtig. Und ich glaube, ich hörte ein paar Streicher und Glockengeläut erfüllte das Vier-Mann-Zelt. Dass er danach irgendetwas gesagt haben soll wie "das musst du aber noch üben", behaupten Lea und Sonja noch heute. Auch, dass ich den Kopf albern hin und her bewegt und dabei laut gestöhnt hätte. So ein Unsinn. Die Wahrheit ist: Sie waren nur neidisch, weil ich die Erste von uns war, die die Magie des Küssens entdeckt hatte. (eku)Anna erzählt auf der Szene-Seite in unregelmäßigen Abständen aus ihrem Leben.

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