Wenn die Seele Hunger hat

TRIER. Hinter jeder Ess-Störung steckt eine tiefe Sehnsucht. Je früher die Erkrankung erkannt wird, umso größer sind die Heilungschancen. Vier Experten gaben den Lesern des Trierischen Volksfreunds wertvolle Tipps am TV-Erziehungstelefon.

Liane kennt sie alle. Die Kartoffeldiät, die Kohlsuppendiät, lästiges Kalorienzählen, qualvolle Fastenkuren. Sie ist 15 und 1, 70 Meter groß. Die Waage bestimmt, ob der Tag "top" oder "flop" ist. Liane wiegt 41 Kilo und findet sich zu dick. Sie leidet an Magersucht. "Je früher die Erkrankung erkannt wird, umso größer ist die Chance auf Heilung", sagt Oberarzt Jörg Hoffmann von der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Mutterhauses in Trier. Häufig sei zu beobachten, dass Diäten Tore zu Ess-Störungen öffnen. "Diäten können zum Selbstläufer für Ess-Störungen werden. Die Folge kann sein, dass die Gedanken nur noch um das Gewicht und die Figur kreisen", sagt Soi Papanastasiou, Psychologin der Suchtberatungsstelle der Diakonie Trier. Ess-Störungen haben viele Gesichter: Magersüchtige (Anorexia nervosa) hungern bis hin zu lebensbedrohendem Untergewicht. Eß-/Brechsüchtige (Bulimia nervosa) stecken in einem Kreislauf aus Diätversuchen, Essanfällen und selbst ausgelöstem Erbrechen. Ess-Süchtige überessen sich ständig, schlingen die Mahlzeiten herunter und werden übergewichtig. "Gemeinsam ist allen Formen der Ess-Störung, dass Essen zum zentralen Thema wird", sagt Hildegard Neumann von der Lebensberatungsstelle Saarburg. "Die vorpubertäre Magersucht ist in den letzten Jahren angestiegen", sagt Jörg Hoffmann. Die Gründe sind laut dem Mediziner vielseitig: Eine der Ursachen sei, dass viele junge Mädchen einem Schönheitsideal, das von den Medien propagiert wird, nacheifern wollen. Schlank sein wie die Topmodels oder die Erfolg verwöhnte Sportlerin, spiele eine große Rolle. Und: Der gesellschaftliche Druck, dünn sein zu müssen, laste schwer auf den Mädchen, besonders während der Selbstfindungsphase Pubertät. In den Köpfen geistere die Rechnung: "superschlank gleich schön gleich glücklich". Auch die Kleiderindustrie spiele das Spiel um angebliche Traummaße mit: "Die Größe XS gab es vor zehn Jahren nicht", sagt Andrea Bauer-Fisseni von der Lebensberatungsstelle Hermeskeil. Hinter einer Ess-Störung könne auch stecken, dass die Patientin oder der Patient fehlende Aufmerksamkeit erhalten möchte. "Normal essen fällt nicht auf", so Neumann. Das essgestörte Kind könne auch Symptomträger eines kranken Familiensystems sein. Traumatische Erfahrungen, wie sexueller Missbrauch, und Angst vor Nähe könnten sich hinter der Erkrankung verbergen. "Ess-Gestörte neigen oft zum Perfektionismus", so Andrea Bauer-Fisseni. "Magersüchtige oder Bulimiker definieren sich über die Figur, anstatt auch über Hobbys oder über Bildung Anerkennung zu finden", sagt Hildegard Neumann. "Wichtig, um erfolgreich behandeln zu können, ist, dass die Ursache erkannt wird", so Neumann. Schwierig mache die Behandlung, dass der "Suchtstoff", in diesem Fall das Essen, nicht etwa, wie bei einer Alkoholsucht, weggelassen werden könne. "Essen ist lebensnotwendig", so Bauer-Fisseni. Jörg Hoffmann: "Körperliche Ursachen müssen im Vorfeld immer ausgeschaltet werden." Die Experten sind sich einig, dass die Überwindung einer schweren Ess-Störung ohne fachliche Hilfe kaum möglich sei. Hilfe erhalten Betroffene bei den niedergelassenen Kinder- und Hausärzten und in den Beratungsstellen. Die Trierer Selbsthilfegruppe für Ess-Störungen ist unter der Telefonnummer 0176/ 29575288 zu erreichen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort