Zünftig reisen
Nach einer Reise, die ihn durch ganz Deutschland, durch Österreich, die Schweiz, die Benelux-Länder und schließlich bis nach Hawaii geführt hat, nach zwei Jahren und zwölf Tagen ohne Geld und festes Ziel, ist es ausgerechnet das Ortsschild in Wittlich-Lüxem, das sich Jochen Schmitz am Ende seiner Tour als unüberwindbares Hindernis in den Weg stellt.
"3,30 Meter waren einfach zu hoch zum Drüberklettern, und ich wollte das Schild ja auch nicht kaputt machen", erzählt der 24-Jährige vom letzten Abschnitt einer Reise, die "das Leben verändert hat".
Jochen Schmitz ist Tischler und war auf der Walz, wie die mehrjährige Wanderschaft der Handwerksgesellen heißt. Und die endet gewöhnlich damit, bei der Rückkehr über das Ortsschild zu steigen - wenn es denn dann nicht so hoch wie in Wittlich montiert ist. Die Gesellen in ihrer traditionellen Kluft lernen in verschiedenen Betrieben neue Arbeitsweisen kennen, sie sammeln Lebenserfahrung und entdecken fremde Länder und Kulturen. "Ich wollte die Welt sehen und mich beruflich und menschlich weiterentwickeln", erzählt Schmitz.
Vor sechs Jahren hat er in einer Wittlicher Schreinerei seine Lehre begonnen, dann folgte ein Jahr als Geselle - doch schon damals stand fest: Es geht auf die Walz. "Als wir vor dreieinhalb Jahren zusammenkamen, wusste ich, worauf ich mich einlasse", erinnert sich Jochen Schmitz' Freundin Yvonne Thiel. Die beiden haben sich in den vergangenen zwei Jahren nur acht Mal getroffen - schließlich gehört zu den Regeln der Walz, dem Heimatort nicht näher als 50 Kilometer zu kommen. Außerdem dürfen die wandernden Gesellen kaum etwas besitzen: Handy und MP3-Player sind tabu, eine kleine Kamera für ein paar Erinnerungsfotos ist jedoch erlaubt. Kreditkarte und Bargeld müssen zu Hause bleiben.
Gereist wird meist per Anhalter oder zu Fuß. Die örtlichen Handwerkskammern vermitteln Adressen von Handwerksbetrieben, bei denen die Bewerber vorsprechen. Wenn es gut läuft, gibt es dann für maximal sechs bis acht Wochen Arbeit, Kost und Logis sowie eine Bezahlung, manchmal sogar den Tariflohn. Wenn es schlecht läuft, bleiben dagegen nur die Übernachtung im Stadtpark und die höfliche Bitte in der Bäckerei um etwas Brot vom Vortag. Jochen Schmitz hat symbolisch einen als Hemd gefalteten Fünf-Mark-Schein in sein Wanderbuch geklebt, das ihn die ganze Zeit begleitet hat. "Mein letztes Hemd", sagt er. Manches Mal sei es eng gewesen, aber auf die Idee, sein letztes Hemd gegen ein Abendessen einzutauschen, sei er nie gekommen.
Wenn sie Glück haben, können die Handwerker auf einem Bauernhof im Heu übernachten. Hin und wieder ist Schmitz auch von Menschen auf der Straße angesprochen worden, denen er für ein Abendessen und ein Bett für die Nacht ihre neuen Möbel aufgebaut hat. "Man lernt, Kleinigkeiten wie eine Dusche, ein frisch bezogenes Bett oder eine Waschmaschine zu schätzen", erzählt der Tischler. In manchen Situationen frage man sich schon, warum man das mache, erinnert er sich. "Aber wenn man drei Stunden im Regen an einer Autobahnauffahrt gestanden hat, und dann ein Audi A8 anhält und der Fahrer einem am Ende noch fünf Euro für ein Bier schenkt, dann weiß man, dass es noch gute Menschen gibt."
Mit Bankdirektoren ist der 24-Jährige gereist, aber auch mit Hartz-IV-Empfängern. Im Flieger ging es sogar bis nach Hawaii, das Ticket mühsam vom schmalen Lohn zusammengespart. Mit 20 Euro in der Tasche ist er auf der Pazifik-Insel gelandet. "Die Einheimischen hatten zuerst Angst vor mir. Mit der dicken Weste und dem Bart hat man mich sogar für Osama bin Laden gehalten", erinnert er sich schmunzelnd. Eine Woche hat der Tischler am Strand "gewohnt", dann wurde ein österreichisches Ehepaar auf den Besucher in der ungewöhnlichen Kluft aufmerksam. Für sie baute er ein Dach auf eine Gartenüberdachung und wurde weiterempfohlen: "Anschließend habe ich die Yacht eines Millionärs restauriert und während dieser Zeit in seiner Villa gewohnt", berichtet er.
Inzwischen ist Jochen Schmitz wieder in Wittlich angekommen. Der Tischler will sich jetzt wieder auf Jobsuche begeben. Aber in der Region und mit der Absicht, länger als acht Wochen zu bleiben. "Schließlich", sagt Jochen Schmitz und lächelt, "bin ich nicht auf die Walz gegangen, um für immer wegzugehen, sondern um wiederzukommen."