Das ABC des Günter Grass: Volksfreund-Interview mit dem Nobelpreisträger

Prüm · Eine Viertelstunde mit dem Nobelpreisträger: Vor seinem Auftritt in Prüm (volksfreund.de berichtete) unterhielt sich Günter Grass mit unserem Reporter Fritz-Peter Linden. Der Autor zeigte sich freundlich, trotz allen Trubels entspannt – und keineswegs altersmild.

"Grimms Wörter" erzählt, unter anderem, auch die Entstehungsgeschichte des "Deutschen Wörterbuchs". Gehen wir also einige Buchstaben durch.

Beginnend mit dem "A": Da steht im Anfangskapitel der schöne Begriff "Arschkriecher". Natürlich falle ihm dazu etwas ein, ganz aktuell sogar, sagt Günter Grass. "Wenn ich jetzt zum Beispiel sehe, dass im Bundestag der Papst spricht." Und wenn dieser gleich zu Anfang sinngemäß sage, dass Mehrheitsbeschlüsse für ihn im Grunde nicht bindend seien, "dann ist das ein Affront dem Parlament gegenüber. Und diese Arschkriecher im Parlament haben nicht gepfiffen und haben nicht gesagt: Was meinen Sie denn damit?"In einem demokratischen Staat sei man oft genug gezwungen, "auch wenn wir anderer Meinung sind", einen Mehrheitsbeschluss zu akzeptieren, sagt Grass. "Wir leben davon. Wir leben in einer Demokratie." Und die sei eben auch von der Bedingung bestimmt, "dass sie Kompromisse ertragen muss, die man nicht gutheißen kann oder nur halbwegs gutheißen kann. Und wenn die Mehrheit darüber befindet, dann ist das zu akzeptieren. Und da kommt ein Papst an und behauptet das Gegenteil. Und ich finde, das ist eine Art von Arschkriecherei, wenn dann die Leute da stehen und durch die Fraktionen hindurch ihm die Hand schütteln. Nein, da hätte natürlich einer aufstehen und sagen müssen: Können Sie das mal ein bisschen näher erläutern?"

Etwas braver machen wir weiter: B - wie Buch, "wohl mein letztes", wie er zu "Grimms Wörter" gesagt hat. Vielleicht wird es das ja doch nicht bleiben: Siebeneinhalb Jahre habe er zuletzt mit der Arbeit an seinen drei autobiografisch gefärbten Büchern verbracht (Beim Häuten der Zwiebel, Die Box, Grimms Wörter). "Und dann habe ich das gemacht, was ich immer gemacht habe nach einer so langen Fron unter der Manuskriptarbeit: Ich habe meine andere Möglichkeit wahrgenommen und mache seit einem Jahr Radierungen zu einem Roman, den ich vor 50 Jahren geschrieben habe, zu ,Hundejahre'" - dem Buch, das ihm von allen am meisten nachhänge "und das ich mehr schätze fast als die Blechtrommel, das sehr bildkräftig in der Sprache ist und dazu neigt mich zu provozieren, zeichnerisch darauf zu reagieren." Sobald diese Arbeit abgeschlossen sei, "hoffe ich, dass bei mir wieder die Antennen offen sind für Gedichte. Denn das ist der Ursprung meines Schreibens, so habe ich angefangen, und für mich ist das Lyrikschreiben nach wie vor das genaueste Mittel, mich nach einer gewissen Zeit neu zu vermessen, zu befragen. Und vielleicht wird sogar ein Buch oder ein Büchlein daraus."

B wie Brandt, Willy: "Ein prägender Politiker", sagt Grass. Dazu gehöre auch der Tadel, den er sich durch sein politisches Engagement eingefangen habe. "Aber ich habe auch viel Erfahrung damit gesammelt. Ich bin durch meine Art, mich als Bürger zu engagieren, in Regionen gekommen, in die normalerweise ein Schriftsteller nicht kommt, und auch vor ein Publikum, das normalerweise nicht in literarische Veranstaltungen geht." Dabei sei es ihm immer eine Freude gewesen, den Sozialdemokraten auch in Wahlkreisen, in denen sie am Rande standen, "zumindest mal zu einem vollen Saal zu verhelfen. Und gelegentlich hat das ja auch geholfen." Er bezeichnet sich in "Grimms Wörter" als "gelernten" Sozialdemokraten. "Und was Marx, der ja einmal Autor Ihrer Zeitung war, nicht gerne hören würde: Ich bin ein eingefleischter Revisionist." (Anm: Der Revisionismus war die 1896 vom sozialdemokratischen Theoretiker Eduard Bernstein entwickelte Abkehr vom ursprünglichen Marxismus, die statt auf Revolutionen auf Reformen setzte)

D wie Dialekt - und Heimat: "Dazu kann ich einiges sagen. Bei mir ging es ja darum, über verlorene Heimat zu schreiben. Durch einen von uns Deutschen begonnenen und verbrecherisch geführten Krieg haben tausende, hunderttausende, Millionen Menschen ihre Heimat verloren. Ich komme aus Danzig, und ich hatte im Gegensatz zu all den Flüchtlingen und Vertriebenen die Möglichkeit, mit Hilfe der Sprache das Verlorene zu beschwören, wieder entstehen zu lassen. Ein Vorteil der Literatur. Das hat zu einem obsessionshaften Schreiben geführt, was diese Dinge betrifft. Dazu gehören auch verlorene Dialekte. Und in diesen Büchern, von der Blechtrommel angefangen, tauchen immer wieder auch Dialektpassagen auf, weil ich das Kräftige, das Erfahrungsgebundene dieser Dialektsprache gerne zumindest in Rudimenten erhalten sehen möchte."

Z wie Ziel? "Sicher gibt es Ziele. Aber mit dem Erreichen ist es so: Da merkt man schon, da liegt wieder eine andere Wegstrecke. Es gibt so eine schöne sozialdemokratische Formel, ich glaube von Bernstein: Der Weg ist das Ziel."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort