Die Stimme Amerikas

Prüm · Heute vor 100 Jahren starb der amerikanische Schriftsteller und Humorist Mark Twain, am 30. November ist sein 175. Geburtstag – und vor 125 Jahren veröffentlichte er sein Meisterwerk: „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“. Eine Reihe von empfehlenswerten Neuerscheinungen begleitet das Twain-Jahr 2010.

„Drüben überm Wasser lagen das Ufer und die Inseln, und mal tauchte vielleicht ein Licht auf – eine Kerze in einem Hüttenfenster –, und manchmal sah man auch ein oder zwei Lichter auf dem Wasser... Das Leben auf einem Floß ist wunderschön.“

Mark Twain, Huckleberry Finn (Übersetzung: Andreas Nohl)Das Jahr 2010 bietet viele Anlässe, Mark Twain (wieder-) zu entdecken – aber der schönste ist und bleibt zeitlos: seine Literatur.

Der gewöhnliche Mann „plus Genie“ – so urteilten Zeitgenossen über den Autor, dessen Pseudonym für „zwei Faden“ steht: knapp vier Meter, die nötige Wassertiefe für die Schiffe auf dem Mississippi. Der Begriff stammt aus der Sprache der Flusslotsen – Twain war als solcher selbst mit Anfang 20 drei Jahre lang auf dem Ol’ Man River gefahren, er berichtet davon in „Leben auf dem Mississippi“.

Weltruhm erlangte Twain nicht nur, weil er zwei wunderbar anarchistische Jungs erfand, hinter deren Geschichten weit mehr steckt, als die vielen allzu putzigen Verfilmungen und verfälschenden, entschärften Übersetzungen vermuten lassen. Sondern weil er zugleich der amerikanischen Literatur den Weg in die Unabhängigkeit ebnete und sie dadurch befreite vom bis dahin vorherrschenden Zwang, europäischen Vorbildern nachzueifern.

„Wir haben die Abenteuer an der Kyll nachgespielt, die uns damals genauso groß und unergründlich wie der Mississippi vorkam. Später wollte ich immer eine so unbekümmerte und doch so tiefe Geschichte schreiben. Aber es ist so, wie Salinger im ,Fänger im Roggen’ schreibt, dass irgendwie alle Jugendgeschichten im Grunde verdammte Huckleberry Finn-Geschichten sind, man es niemals mehr so gut hinbekommt.“

Norbert Scheuer, Schriftsteller („Kall, Eifel“, „Überm Rauschen“)Denn in Twains Büchern geschehen unerhörte Dinge – und die Menschen reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist: Twain hatte ein außerordentlich sensibles Ohr für die Sprache seiner Zeitgenossen. Daraus große Literatur gemacht zu haben, das ist eines seiner bahnbrechenden Verdienste.

Dafür steht vor allem sein Meisterwerk, das – noch ein Jubiläum – 1885, vor 125 Jahren, erstmals in den USA erschien: „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“. Eigentlich die Fortsetzung von „Tom Sawyer“, und doch so viel mehr: Es ist das Buch, so der bekannte Satz von Ernest Hemingway, von dem alle moderne amerikanische Literatur abstamme, aus den oben genannten Gründen.

Der Vorgänger „Tom Sawyer“ ist ein wunderbarer Blick in das Paradies der Kindheit. „Huckleberry Finn“ aber, aus der Ich-Perspektive des bildungsfernen, aber herzensklugen Titelhelden erzählt, ist von anderem Kaliber: Paradiesische Zustände gibt es für Huck und den entflohenen Sklaven Jim nur auf dem Fluss, dem großen, trägen Mississippi, von dem sich die beiden auf ihrem Floß immer weiter in Richtung Freiheit treiben lassen.

An seinen Ufern aber erleben sie Rassismus, Gewalt, religiösen und anderen Starrsinn, von Twain in ätzender Schärfe beschrieben. Dann wieder gibt es Passagen von hinreißender Schönheit – der Morgen am Ufer in Kapitel 19 – und von umwerfender Komik. Und vieles mehr: Schelmen- und Abenteuerroman, Freiheitsbuch, Gesellschaftssatire – bis heute wird darüber diskutiert, was eigentlich Huckleberry Finn alles sei, auch das ein Zeichen für seine Bedeutung.

Man hat auch dem Autor Rassismus vorgeworfen, weil Jim und die anderen Sklaven durchgehend als „Nigger“ bezeichnet werden. Aber so redete man damals – und die Twain-Kritiker übersehen, dass es Huckleberry ist, der diesen Rassismus überwindet, indem er zu Jim hält – und sich dazu entscheidet, seinen Freund nicht zu verraten, auch wenn es, nach den damaligen Konventionen, die falsche Entscheidung ist. Huck pfeift darauf: „Na gut, dann fahre ich zur Hölle.“

Tom Sawyer und Huckleberry Finn: Ihre Abenteuer sind nun in einem empfehlenswerten Band neu zu lesen, herausgegeben und erfreulich unverkrampft übersetzt von Andreas Nohl (Hanser Verlag, 34,90 Euro). Lobenswert auch, dass Nohl darauf verzichtet, den Figuren, so wie es andere getan haben, irgendwelche deutschen Dialekte unterzuschieben. Ein Problem allerdings lässt sich nicht überwinden: Verlustfrei ins Deutsche bringen lässt sich vor allem „Huckleberry Finn“ nicht. Zu eigenwillig ist einfach das von der Alltagssprache geprägte Kolorit des Originals. So ist Nohls Übertragung deutlich gediegener, „zivilisierter“ geraten als Twains Originaltext, der sprachliche Dreck unter den Fingernägeln der Charaktere ist weitgehend rausgewaschen.

Mark Twain: das ist für mich immer noch der legendäre Weihnachts-Vierteiler vor über 40 Jahren: naturnahe Kindheit am Mississipi mit seinen kolossalen Raddampfern, mit Spielen, Streichen, Abenteuern – in epischer Breite verfilmt, gebannt verfolgt, als man selber noch Kind war. Ein zweiter Mosaikstein der Erinnerung: der Lesebuchklassiker „Tom streicht einen Zaun“ mit dem glänzenden Trick, Strafe in Lust zu verwandeln.

Ach ja, in einer Prümer Pfadfindertruppe Ende der 60er Jahre sollte ich mal den Lausebengel Tom spielen, aber über erste Ideen und Planungen ist das Theaterprojekt nie hinausgekommen. Der Mississipi aber bleibt für mich ein klassischer Erzähl-Strom schlechthin...“

Josef Zierden, Chef des Eifel-Literatur-FestivalsWas aber bleibt, ist eine immer noch großartige, ergreifend schöne, düstere und komische Geschichte für alle Generationen. „Tote interessieren mich nicht die Bohne“, sagt Huck. Für ihn gilt das nicht: Er ist unsterblich.