Ein Mal Ork sein

Hast Du auch eine Zange zum Nägel ausreißen?", fragt der Kunde. "Nein, nur Spreizer, aber die sind auch gut", antwortet der Verkäufer und reicht dem Mann vor seinem Stand ein Ding aus Latex, das so ähnlich aussieht wie eine Schere. Er wolle sich rächen, erklärt der Kunde, während er dem Verkäufer siebzig Euro für die kleine Waffensammlung gibt, die er nun sein eigen nennt. "Die" hätten seiner Freundin einen Finger abgeschnitten und aufgegessen. Der Verkäufer nickt verständnisvoll - und vielleicht ein wenig gelangweilt. "Die" sind Orks und Orks sind fies. Das weiß ja jedes Kind. Ständig tauchen Leute an seinem Stand auf, die sich wegen irgendetwas an Orks rächen wollen oder am "untoten Fleisch", dem "schwarzen Eis" oder anderem Bösen, was auf "Mythodea" so kreucht und fleucht. Mythodea ist ein erfundener Kontinent, eine Welt für sich. Voller fantastischer Gestalten, bösen wie guten, auf Mythodea wird gesungen und geliebt, getrauert und gestorben. Dort gibt es in Tausenden Zelten Tausende Geschicke, Tavernen, Musik und große Schlachten. Alljährlich entführt das "Conquest", das größte Live-Rollenspiel Europas, rund 5000 Menschen in diese fantastische Welt. Macht sie zu Rittern, Söldnern, Heilern, Huren, Orks, Elfen, Kopfgeldjägern, Zwergen, Seefahrern, räudigen Ratten oder was sie eben sonst so gerne wären. Treffen im August auf dem Rittergut



Die Live-Rollenspieler oder auch "Larper" (Live Action Role Player) treffen sich immer wieder im August auf dem Rittergut in Brokeloh, einem winzigen Dorf in der Nähe Hannovers, umgeben von Wäldern, Feldern und Moor. 380 Einwohner zählt die im Dorfwettbewerb mit Gold prämierte Gemeinde. Und ihr jährliches Aufeinandertreffen mit tausenden merkwürdiger Gestalten gestaltet sich überraschend unkompliziert: Man freut sich aufeinander. Viele der Einheimischen hätten sich inzwischen eigene Gewandungen geschneidert, sagt Tina Poppmacher, eine von 200 Organisatoren des großen Spiels. Die Einheimischen haben kostenlosen Eintritt und organisieren selbst Führungen für Interessierte aus der Umgebung. Wer auf das Gelände will, muss sich allerdings ein Gewand überwerfen - um das Spiel nicht zu stören. Das Spiel. Es tobt auf einer fast 40 Hektar großen Fläche, im Großen wie im Kleinen, auf dem Schlachtfeld, im Badezuber, hinter den vielen hundert Meter langen Palisadenzäunen der verschiedenen Lager, beim Frühstück und wohl auch im Bett.

Das Spiel ist überall. Ausgang ungewiss. Denn obwohl etwa 1000 "Plots" (Spiel-Handlungen) in groben Zügen festgelegt sind, liegt es an den Spielern, ob am Ende das Gute oder das Böse siegt, ob ein Verwundeter sterben muss, eine Hochzeit gefeiert wird und sogar, wie es mit dem ganzen Kontinent weitergeht.

Grob, sehr grob umrissen ist die Geschichte folgende: Es gibt auf Mythodea rund 4000 Gute und 1000 Böse. Der größte Teil der Bösen gehört zu den sogenannten "Nichtspieler-Charakteren": Sie handeln im Gegensatz zu den übrigen 4000 Spielern nicht frei, sondern folgen einem zuvor von der Spielleitung festgelegten "Drehbuch". Die Guten wollen friedlich siedeln und die Bösen wollen, was Böse so wollen: morden, stehlen, sich bereichern und die Weltherrschaft erlangen. Um zu gewinnen, sammeln die Parteien sogenannte "Banner der Macht" und wer mehr hat, hat gewonnen. Das Regelwerk des Live-Rollenspiels umfasst satte 72 Seiten: Dort geht es um Charaktere und Fähigkeiten, um Punktesysteme, Kosten für spielinterne Handlungen und die Grundlagen des Zusammenlebens auf Mythodea. Es ist hochkomplex. Und doch - auch wer sich ahnungslos in dieses Spiel hineinbegibt, wird innerhalb kürzester Zeit ein Teil von ihm. Und vergisst beim Anblick des Schlachtfelds womöglich, dass er spielt - wenn unter einem bedrohlich schwarzen Himmel aus der Ferne die Trommeln der Orks herüberklingen. Sie kommen immer näher. Die Luft riecht nach Rauch, zwischen den Kämpfenden, die schreiend mit Latex-Schwertern und -Äxten aufeinander einschlagen, liegen Verletzte auf dem Boden. Heiler zerren sie aus dem Getümmel und bringen sie ins Krankenlager. Ein Witzbold verkauft inmitten der Schlacht geröstete Erdnüsse. "Erdnüsse, nur ein Kupfer", ruft er. Innerhalb kürzester Zeit ist sein Beutel prall gefüllt mit Münzen, für die er sich nur hier etwas kaufen kann. Denn Mythodea hat eine eigene Währung.

Wenige Meter weiter, vor einem stark kunstblutenden Verwundeten sitzend, blickt ein Heiler besorgt Richtung Schlachtfeld. Ein wildes Geschrei dringt von dort zu ihm herüber. Dann besinnt er sich auf seine Aufgabe, packt medizinisches Latexgerät aus, desinfiziert es, tupft das Kunstblut ab und näht die Wunde. Seine Bewegungen sind routiniert, sein Blick konzentriert, der Verwundete stöhnt. In einem anderen Lager wohnen seine Kollegen derweil einem Vortrag der "Heilergilde" bei. Sie lernen, wie man mit neumodischen Schussverletzungen umgeht, was ein "Heilloch-Bohrer" ist und erfahren, dass im Magier-Lager ein merkwürdiger blauer Pilz grassiert.

Am Abend geht's in die Taverne



Abends dann treffen all die skurrilen Gestalten in den Tavernen Mythodeas aufeinander. Davon gibt es viele und eine ist imposanter als die nächste: Die Piraten gehen zum Trinken gerne in ein riesiges Schiff, das extra zu diesem Zweck Planke für Planke auf dem Spielgelände errichtet wurde. Orks & Co. hingegen legen zunächst einen langen Weg durch einen stockfinsteren Tunnel aus schwarzen Plastikplanen zurück, ehe sie an der Theke stehen und den Schreck, im Dunkeln einem Werwolf begegnet zu sein, mit "Drachenblut" ertränken.

Und dann tun alle, was ihr Charakter und die Situation ihnen eingeben… Kopfgeldjäger jagen Köpfe, Vampire was zu beißen und Huren ihre Kundschaft; Landsknechte besprechen die Schlacht, die "Liga der feinen Herren" singt zotige Lieder, Orks knuspern "Elfenohren", Hauptmänner hecken den Schlachtplan des kommenden Tages aus, Musiker spielen mittelalterliche Hits, giftgrüne Gnome hüpfen dazu, Reporter verkaufen die neueste Ausgabe der "Stimme des Herolds", Trolle grunzen, Wundermittelhersteller verkaufen Wundermittel, Händler erholen sich von einem langen Verkaufstag, die Piraten beschränken sich auf Seemannsgarn und Saufgelage, Tausende andere tun Tausend andere Dinge und das schon bald wieder, denn vom 5. bis zum 9. August herrscht in dem kleinen Örtchen Brokeloh erneut der Ausnahmezustand…

Extra

Liverollenspiele oder Live Action Role Plays (Larps) sind Rollenspiele, bei denen die Akteure ihre Spielfigur selbst darstellen. Die Handlung kann in jedem erdenklichen Genre spielen: Fantasy, Mittelalter, Western, Weltraum… Die Teilnehmer schlüpfen in selbst erdachte Charaktere und versuchen, diese so gut wie möglich mit Leben zu füllen. Das Spiel erinnert an ein Improvisationstheater, denn es gibt kein festes Drehbuch: Innerhalb der jeweils festgesetzten Regeln können die Spieler völlig frei handeln. Tara Tobias Moritzen vom Szene-Magazin "Larp-Zeit" schätzt, dass es in Deutschland etwa 1000 Liverollenspiele jährlich gibt - darunter ganz kleine mit zehn und ganz große mit 5000 Spielern - und insgesamt rund 80 000 Spieler, die zumindest im Zwei-Jahres-Rhythmus in ihren Charakter schlüpfen. Larps gibt es laut Moritzen seit etwa Mitte der 80er Jahre. Sie haben sich aus Rollenspielen entwickelt, bei denen die Spieler ihre Charaktere zunächst nur auf einem Spielbrett bewegten. Die meisten Spieler dürften zwischen 20 und 40 Jahre alt sein. Nicht selten investieren sie viel Energie, Zeit und auch Geld in ihr Hobby. (kah)

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort