Ein Wintermärchen

Swetlana ist stolz auf ihre Heimatstadt, aber sie schwelgt auch gerne in alten Zeiten. Die Stadtführerin ärgert sich, dass in St. Petersburg bis auf eine monumentale Statue alle Lenin-Denkmäler nach der Wende abgerissen wurden.

Swetlana ist stolz auf ihre Heimatstadt, aber sie schwelgt auch gerne in alten Zeiten. Die Stadtführerin ärgert sich, dass in St. Petersburg bis auf eine monumentale Statue alle Lenin-Denkmäler nach der Wende abgerissen wurden. "Das ist schade, immerhin gehört er zu unserer Geschichte dazu", meint die 50-Jährige, deren Job es ist, vorrangig westlichen Touristen die Schönheiten des früheren Leningrad näher zu bringen. Dabei denkt sie teilweise wehmütig an die Zeit des Kommunismus zurück, dennoch weiß sie die Vorzüge der neuen Ära unter dem in St. Petersburg geborenen Präsidenten Vladimir Putin zu schätzen. Das (Stadt)-Bild hat sich geändert, speziell, als es darum ging, die Stadt, die jährlich von über vier Millionen Touristen besucht wird, für das 300. Stadtjubiläum 2003 herauszuputzen.Gerade die größtenteils von italienischen und französischen Architekten im 18. Jahrhundert angelegte Prachtstraße Newski Prospekt hat davon profitiert. Die Bauten erstrahlen in neuem Glanz, nachdem sie zu Zeiten des Sozialismus arg verfallen waren. Milliarden wurden in die Renovierung gesteckt, nur wenige Prachtbauten sind nicht rechtzeitig fertig geworden in jener vier Kilometer langen Straße vom südlichen Ufer des Hauptflusses Newa bis hin zum bekanntesten Gebäude, dem Winterpalast, der Teil der weltberühmten Eremitage ist.

Im Sommer, in der Zeit der langen, "weißen Nächte", besichtigen bis zu 10 000 Menschen täglich die Gemälde von Rembrandt, da Vinci, Botticelli oder Van Gogh, die in fünf riesigen früheren Palästen entlang der Newa und am Schlossplatz untergebracht sind und von der Kunstsammelwut der Zarin Katharina der Großen zeugen. Menschenmassen zwängen sich durch die meterhohen Hallen mit monumentalen Deckengemälden. Jetzt ist es Winter in St. Petersburg, das 1703 von Peter dem Großen auf sumpfigen Gelände zwischen Flüssen und Kanälen auf der Haseninsel aus der Taufe gehoben wurde. Winter im ehemaligen Leningrad, das erst seit 1991 nach einer knappen Volksentscheidung (nur 54 Prozent stimmten für den alten Namen) wieder St. Petersburg heißt. Winter heißt: Teilweise klirrende Kälte, viel Schnee und Eis - und deutlich mehr Ruhe in den touristischen Sehenswürdigkeiten. Ob in der Eremitage oder dem mindestens genauso berühmten Bernsteinzimmer im Vorort Puschkin, der nach dem berühmtesten russischen Dichter benannt ist. Wer im Winter kommt, kann sich viel intensiver den Exponaten und Palästen widmen. 20 Minuten Verweildauer im 2003 fertig renovierten Bernsteinzimmer - im Sommer unmöglich, wenn Wächter darauf achten, dass man bloß nicht länger als eine Minute im Raum bleibt.

Wo sich der Original-Bernstein befindet, der der deutsche Kaiser Friedrich der Erste seinerzeit Katharina der Großen schenkte, ist weiter eines der größten Geheimnisse der Neuzeit. Fakt ist: Am 14. Oktober 1941 nahmen deutsche Soldaten, die St. Petersburg überfielen, den Katherinenpalast ein, brachten die sechs Tonnen Bernstein nach Königsberg. Nach der rund dreijährigen deutschen Besatzungszeit in St. Petersburg tauchte es nie mehr auf. Zu allem Überfluss zündeten die Deutschen die ehemalige Sommerresidenz von Katharina der Großen an, zahllose Kunstschätze - zumindest die, die von den Russen nicht vorher in Richtung Sibirien abtransportiert worden waren - wurden ein Raub der Flammen.

Über 25 Jahre dauerte die 1979 begonnene Rekonstruktion des Zimmers. Alleine dessen Renovierungskosten belaufen sich auf 22 Millionen Euro. Wo ein Teil des Geldes herkam, verrät eine kleine goldene Platte. In vier Sprachen wird dort der Ruhrgas AG (just jene AG, die nun den Pipeline-Deal mit Gerhard Schröder einfädelte) für ihre 3,5 Millionen Dollar schwere Gabe zur Verbesserung der deutsch-russischen Beziehungen gedankt. Natürlich war Schröder, der einige in Deutschland aufgetauchte Einrichtungsgegenstände als weitere Gaben mitbrachte, bei der Wiedereröffnung im Mai 2003 mit Putin zu Gast.

Überhaupt ist Deutschland sehr präsent in St. Petersburg: seien es die zahllosen deutschen Luxuskarossen, die durch Öl oder andere Geschäfte reich gewordene St. Petersburger als Statussymbole durch den dicht gedrängten Verkehr chauffieren (lassen). Sei es Siemens, das die größte Industriefabrik Elektrosilja (Turbinenhersteller) aufkaufte. Seien es die früheren deutschen Prinzessinnen, die später Zarenfrauen wurden und nun - wie alle Zarenfamilien - auf der Haseninsel in der Peter-und-Paul-Festung beerdigt sind. 1998 kamen die Gebeine des letzten Zaren Nikolaus hinzu, der 1917 mitsamt seiner Familie von Lenin-Getreuen ermordet wurde - der blutige Abschluss der Oktoberrevolution. Seinen Anfang nahmen Revolution und Lenins Aufstieg ebenfalls in St. Petersburg: Vom Panzerkreuzer Aurora wurde ein Schuss in Richtung Winterpalast abgefeuert, der Auftakt des Angriffs auf die Macht, Nikolaus wurde gefangen genommen, Lenin regierte.

Der Anfang vom Ende der Bedeutung von St. Petersburg, das zwischenzeitlich in Petrograd (Peterstadt) umgetauft worden war. Denn der Traum von Peter dem Großen und vor allem Katharina der Großen, aus der Stadt an der Newa die Hauptstadt von Politik und Kultur zu machen, war jäh beendet, in Moskau war ab 1918 die Macht zu Hause. Doch ausgerechnet jetzt, da Putin Präsident ist, gibt es wieder Tendenzen, St. Petersburg zumindest zum Regierungssitz zu machen. Die Bewohner des "Venedig des Nordens" sehen die Angelegenheit eher kritisch: "Wir haben hier unsere Ruhe, vor allem, was Terroranschläge betrifft. Das soll auch so bleiben", sagt Reiseführerin Swetlana, während sie an der zugefrorenen Newa entlanggeht und sich über den täglichen Verkehrsinfarkt in den völlig überfüllten Straßen aufregt. Rund fünf Millionen Menschen leben und arbeiten heute in "Pieter", wie die Einwohner ihre Stadt nennen. Hauptverkehrsmittel ist die Metro, die im Sommer ihren 50. Geburtstag feierte. Die U-Bahn ist das Hauptbeförderungsmittel für den kleinen Mann geblieben: Gerade einmal umgerechnet rund 30 Cent kostet eine Fahrt - bezahlbar, angesichts eines Durchschnitts-Einkommens von 300 Dollar monatlich.

Durch den stärker werdenden Tourismus hofft die Stadtverwaltung unter der seit 2003 regierenden Oberbürgermeisterin Walentina Matwijenko darauf, dass der Rubel noch stärker rollt und sich die Stadt von der Industrie abkoppeln kann, deren Brachen sich rund um die Stadt verteilen - Seite an Seite mit stalinistischen Plattenbau-Siedlungen. Aber viele Touristen werden immer noch von den komplizierten Visa-Vorschriften abgehalten. "Wenn sich dieses Prozedere ändert, wird es einen Run auf Russland geben", prophezeit Swetlana, während der Stadtrundgang im Dostojewski-Viertel fortgesetzt wird.

Deutsche Limousinen, wenig typisch Russisches

Man kann im Winter nur erahnen, wie stark die Kanäle im Sommer mit Ausflugsbooten gefüllt sind. Doch viele Touristen verzichten auf den Besuch nicht nur wegen der teuren Visa, sondern auch wegen Sicherheitsbedenken. "St. Petersburg ist nicht unsicherer als Hamburg oder Berlin", sagt Oberbürgermeisterin Matwijenko gerne, doch vor allem in der Metro ist Vorsicht geboten. Die Stadt hat ihre Polizei- und Militärpräsenz erheblich verstärkt, in Hotels wurden Sicherheitsbedienstete eingestellt. Mit Erfolg, wie Swetlana glaubt: "Wer nicht mit seinem Geld prahlt, wird auch nicht beklaut", sagt sie über die nördlichste Millionenstadt der Erde, in der die (offizielle) Arbeitslosigkeit bei gerade einmal fünf Prozent liegt. Wer allerdings sieht, dass an jeder großen Kreuzung ein Verkehrspolizist seinen Dienst verrichtet, oder dass an jeder U-Bahn-Rolltreppe eine Metro-Mitarbeiterin in einer kleinen Kabine sitzt, weiß, wo die Beschäftigungszahlen herkommen. "Aber besser solche Jobs als gar keine", lautet das Motto nach Zeiten von Kombinaten und Kolchosen. "Es geht aufwärts", lobt Swetlana trotz der winterlichen Tristesse mit Schneematsch auf den Straßen und nur vier- bis fünfstündiger Helligkeit im Winter.

"Go west" hat auch in St. Petersburg Einzug gehalten. Neben der Absicht vieler junger Menschen, sich durch Bildung und Sprachen für einen Job im Westen zu empfehlen, hat sich die Lebensart geändert. Viel Russisches sieht man auf der Prachtstraße Newski Prospekt nicht mehr. Ein Luxus-Kaufhaus mit Marken wie Cartier, daneben bestimmen moderne Handys und Plasma-Fernseher die Werbung. Einzig die bunte, mit Zwiebeltürmen versehene Auferstehungs-Kirche symbolisiert noch das, was für Russland steht. "Die passt nicht hierher, die Leute finden sie kitschig", sagt allerdings Swetlana. Höchstens noch auf den vielen kleinen Märkten gibt es Russisches - oder aber bei den fliegenden Händlern, die überall ihre (unechten) Pelzmützen und (billig kopierten) Sowjet-Armee-Abzeichen anpreisen. Was aber den Stolz der Bewohner auf ihre Geschichte, Bauwerke, Kunstsammlungen und Architektur von Weltruhm nicht verblassen lässt.

Doch am Ende ist auch Swetlana etwas baff: Als die Leninstatue in Sichtweite kommt, fragt sie, wie viele Karl-Marx-Statuen es in Trier gibt. "Keine" lautet die Antwort, "mit Ausnahme einer Büste an seinem Geburtshaus." Swetlana schüttelt nur den Kopf: "Hier ist er noch immer einer der berühmtesten Deutschen. Man sollte die Statuen wieder aufbauen. So geht man nicht mit seiner Geschichte um." Björn Pazen

Infos St. Petersburg

Russisches Verkehrsbüro: Dudenstraße 78, 10965 Berlin, Telefon: 030/78600040, Internet: www.russlandinfo.de

Links zu St. Petersburg im Internet:

www.petersburg-russia.com (in Deutsch und Englisch), www.spb.ru (in Russisch und Englisch), www.allrussiahotels.com (Hotelbuchungen in Englisch)

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