"Gott schütze das Haus Theisen"

TRIER. Das Familienunternehmen Spielwaren Theisen hat mehr als ein Jahrhundert durchlebt und überlebt. Genau genommen: 125 Jahre. Dieses Jubiläum könnte allerdings das letzte sein.

Die Menschen berühren sich, stoßen gegeneinander. Ihre Nasen sind rot vor Kälte. Sie starren auf das Schaufenster. Das Klingeln der Straßenbahn hören sie nicht. Sie merken nicht mal, dass sie auf den Straßenbahn-Schienen stehen. Sie können ihren Blick einfach nicht lösen. Der Grund: Eine Märklin-Modelleisenbahn dreht im Schaufenster an der Fleischstraße Runde um Runde. Es ist das Jahr 1928, kurz vor Weihnachten, und das Geschäft Theisen stellt eines der begehrtesten und modernsten Spielzeuge aus, die es damals gibt. Die Märklin-Eisenbahn, das Nonplusultra. "Jeder Junge wollte damals eine Märklin-Eisenbahn haben", sagt Franz-Ludwig Theisen rückblickend. Er ist der Enkel des Geschäftsgründers Friedrich Theisen und der Sohn von Friedrich Lorenz Theisen, der das Haus von 1928 bis 1980 führt. Heute ist Franz-Ludwig Theisen Geschäftsführer von Spielwaren Theisen, das Spezialgeschäft für technische Spielwaren in der Metzelstraße. Mit Eisenbahnen und technischen Spielwaren hat die Familie allerdings wenig am Hut, als der Klempner, Installateur und Lampist Friedrich Theisen im Jahr 1878 das Geschäft "Sanitärhaus Theisen" in der Fleischstraße gründet. Friedrich Theisen macht sich mit ganz anderen Dingen einen Namen. Er erfindet die "Theisen-Rückenspritze", eine Kolbenspritze mit Doppel-Ventil und Druckbehälter, die Schädlingsbekämpfungsmittel zerstäubt. Winzer tragen die Spritze auf dem Rücken. Franz-Ludwig Theisen besitzt noch Briefe aus dieser Zeit. "Die von ihnen bezogenen Rebspritzen haben sich im verflossenen Sommer ausgezeichnet bewährt", schreibt etwa Weingutsbesitzer Hugo Thanisch. Datiert: Cues-Berncastel, den 2. März 1891. "Mein Großvater", sagt der 74-Jährige, "hat sich damals mit der Rückenspritze eine goldene Nase verdient." "Damals" - das sind die Jahre zwischen 1895 und 1910. 10 000 Stück stellt der umtriebige Geschäftsmann davon her. Mindestens die Hälfte aller Winzer an Mosel, Saar und Ruwer nutzen die "Theisen-Rückenspritze" zur Schädlingsbekämpfung, zählt sein Enkel auf. Aber für Friedrich Theisen ist dieses Produkt nur eines von vielen. Der Erfinder verrichtet Zinkarbeiten an Regenrinnen, verkauft Fontainen und Mündungen, Pissoirs und Waschbecken, fertigt sogar Zimmerbrunnen - und unter der Erde ist er auch tätig. Er verlegt Gas- und Wasserleitungen. Sein Enkel hat kürzlich einen alten gusseisernen Trierer Kanaldeckel in die Hände bekommen. Die Aufschrift: Fr. Theisen. Friedrich Theisen präsentiert seine Geschäftsideen im Jahre 1878 sogar auf der Weltausstellung in Paris und erhält eine Auszeichnung. Die Aufnahme der Märklin-Modelle in das Sortiment geht auf einen Weihnachtswunsch im Jahr 1928 zurück. Friedrich Theisens Sohn, Friedrich Lorenz, will wiederum einem seiner Söhne zu Weihnachten eine Märklin-Eisenbahn schenken. Märklin, erklärt Franz-Ludwig Theisen, sei damals die Marke für Menschen gewesen, "die ein bisschen mehr Geld hatten als der Durchschnitt". Das damals führende Spielwarengeschäft in Trier hat aber eine solche Eisenbahn nicht im Angebot. Die sei zu teuer, um sie auf Lager zu halten, hört Friedrich Lorenz Theisen. Er könne sie höchstens aus einem Katalog bestellen. Sein Vater, berichtet Theisen, ärgert sich so darüber, dass er an die Firma Märklin schreibt. Er bekommt noch im selben Jahr die Märklin-Vertretung. Das führt dazu, dass zeitweise Badewannen, Waschtische, Rückenspritzen und Märklin-Eisenbahnen die Schaufenster gemeinsam zieren. Dieses Bild hat ein Ende, als im Jahre 1944 zwei Fünf-Zentner-Bomben den Laden in der Fleischstraße zerstören. Die Familie muss entscheiden, wie es mit dem Geschäft weiter gehen soll, und fasst einen einschneidenden Entschluss: Der Sanitärbereich wird aufgegeben. Das Geschäft Theisen zieht aus dem Jugendstilhaus in der Fleischstraße 45 und in die Metzelstraße um. Die Familie verkauft nun technische Spielwaren, und zwar hauptsächlich der Marke Märklin, sowie Artikel zur Schädlingsbekämpfung wie Schläuche, Pumpen und Spritzen. Dazu passt, dass Franz-Ludwig Theisen, der heute das Geschäft leitet, eine Leidenschaft für Modellbau entwickelt. Zwischen 1946 und 1950 lässt er sich von der Firma Märklin in Göppingen zum Elektrofeinmechaniker ausbilden. In den 50er und 60er Jahren nimmt er Auto-, Flug- und Schiffsmodellbau in sein Sortiment auf und tritt auch in dieser Zeit mit eigenen Planentwürfen bei den Deutschen Modellflug-Meisterschaften an. Heute ist der Enkel des Firmengründers 74 Jahre alt. Jeden Morgen parkt er sein Smart-Cabriolet mit Firmenaufschrift vor dem Geschäft in der Metzelstraße, steigt die Treppe hoch und kontrolliert seine Regale, gefüllt mit Eisenbahnen und allem Zubehör.Unzählige Kupplungen, Wagen und Loks

Weder Theisen noch seine beiden Mitarbeiter, Josef Karthäuser und Jürgen Merks, mögen schätzen, wie viele Artikel sich in den vielen hohen Regalen stapeln. Die Kunden sind größtenteils Männer "zwischen acht und 80 Jahren", sagt Theisen. Die meisten kommen, weil sie etwas suchen, das nur ein Fachhändler bieten kann. "Wie es weiter geht, wenn ich das Geschäft nicht mehr führe, weiß ich nicht", sagt er. Weder Sohn noch Tochter werden einsteigen. Er hofft, dass sich jemand findet, der den Fachhandel übernehmen will. Seine vage Hoffnung: Vielleicht entwickelt sein zweijähriges Enkelkind ein Interesse am Geschäft. Manchmal blättert der 74-Jährige in dem abgegriffenen Unkosten-Heftchen seines Großvaters. Im Jahr 1900 steht ein Eintrag über den Kauf des Hauses Nummer 45 in der Fleischstraße. "Drei Hammerschläge nach alter Sitte" schlug Friedrich Theisen und notierte dies in seinem Unkosten-Heft. Und ebenso die Worte: "Gott schütze das Haus Theisen."

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