Ich wünsch’ mir eine kleine Welt

Es gibt nur wenige Menschen, denen es gelingt, ihre übergroße Begeisterungsfähigkeit aus Kindertagen ins Erwachsenenleben hinüberzuretten. Der Trierer Historiker Klaus Gerteis ist ein solcher Mensch.

Es gibt nur wenige Menschen, denen es gelingt, ihre übergroße Begeisterungsfähigkeit aus Kindertagen ins Erwachsenenleben hinüberzuretten. Der Trierer Historiker Klaus Gerteis ist ein solcher Mensch. Häufiger schon kommt es vor, dass – wie bei Gerteis – die Kreativität und Liebe eines Erwachsenen im Umgang mit einer Sache ihre Wurzeln in dessen frühen Lebensjahren hat, denn was wäre stärker und dauerhafter zu beeindrucken als eine Kinderseele? Der vorwitzige Blick jedenfalls, den der heute 64-jährige Historiker einst als kleiner Junge einige Tage vor Weihnachten durchs Schlüsselloch ins Bescherungszimmer riskierte, war der Beginn einer lebenslangen Sammelleidenschaft. Auf einem tischgroßen Papierbogen, der als Landschaft bemalt und mit Feldsteinen dekoriert war, tummelten sich Zinnfiguren: Indianer und Trapper, Beduinen, steinzeitliche Bärenjäger und Soldaten. "Ich wünsch’ mir eine kleine Welt", rief der Junge aus, und nach Jahrzehnten des Sammelns war die Bevölkerung dieser Welt auf stolze 42 000 Zinnfiguren aus zwei Jahrhunderten angewachsen. Damit war die kleine Welt aber schlichtweg zu groß geworden: Das private Zinnfigurenmuseum, das Klaus Gerteis auf 35 Quadratmetern in seinem Wohnhaus in Aach führte, platzte Anfang 2002 aus allen Nähten, obwohl nur etwa 6000 Figuren ausgestellt waren. Der Rest lagerte notgedrungen in Schachteln und Kisten. Gerteis suchte per Zeitungsinserat Abhilfe, und das Volkskunde- und Freilichtmuseum Roscheider Hof in Konz griff zu. Dabei schlug es das Deutsche Zinnfigurenmuseum im bayrischen Kulmbach aus dem Feld, weil Gerteis den Ausstellungsort vor der eigenen Haustür vorzog. Ab Sonntag, 8. Mai, wird seine ' beeindruckende Sammlung als Dauerleihgabe in Konz zu sehen sein. Sie soll später als Stiftung in den Besitz des Museums übergehen. Dass ein Museum sich für eine private Sammlung interessiert, ist selten. Was mit der Gerteisschen Zinnfigurensammlung heute im Volkskunde- und Freilichtmuseum Roscheider Hof gezeigt wird, "gibt es in derartiger Bandbreite und wissenschaftlichen Fundiertheit in Deutschland nicht noch einmal", urteilt Museumsleiter Ulrich Haas. "Die Zinnfiguren sind wie für uns gemacht: In unsere Spielzeugabteilung integriert sind sie bestens geeignet, regionale Geschichte bildhaft vor Augen zu führen. Wir haben eine wirkliche Attraktion für uns gewonnen." Die kleine Welt der Zinnfiguren ist in Konz stattliche 220 Quadratmeter groß. Mit Blei, Zinn und Antimon

Wer sie besucht, erlebt diese Welt ganz, buchstäblich von ihrer Erschaffung an. Denn Gerteis hat nicht nur gesammelt, sondern sich auch die Kunst angeeignet, selber Zinnfiguren herzustellen. So hat der Professor im Museum eine Werkstatt eingerichtet, in der er Zinnfiguren zeichnet, die Formen graviert, die Figuren gießt und bemalt. Gegossen wird mit einer Metalllegierung aus Blei, Zinn und Antimon, die schon Gutenberg für seine Lettern verwendet hat. Die Vitrinenreihen der Ausstellung hat Gerteis selbst konzipiert. Sie laden zu einer Zeitreise in die Geschichte ein. Zunächst in die Kulturgeschichte, die sich in den immer zeittypischen Zinnfiguren trefflich widerspiegelt. Wenn auch die Figuren stets ein ausgesprochenes Jungenspielzeug waren und alle Kriege verzinnt worden sind, wurde nicht immer nur "Preußens Gloria" in Form von Militär in Formen gegossen. Im 18. Jahrhundert gab es viele pädagogische Figuren, etwa Tiere in Alphabetform, mit denen die Kinder Lesen lernen sollten, und unter den zinnernen "Helden der Zeit" rangierten sogar Philosophen. Das Biedermeier bevorzugte Volksszenen, ferne Welten und ländliche Idyllen. Die klassischen Zinnfiguren sind die scharf konturierten Flachfiguren, die wie Scherenschnitte von ihren Umrissen leben und durch ihre detaillierte, liebevolle Bemalung die Illusion von Dreidimensionalität erzeugen. Unter den Prunkstücken der Sammlung findet sich eine zehn Zentimeter hohe Ritterfigur mit beweglichen Armen und beweglichem Visier von 1820 – ein Unikat und einer von Gerteis’ persönlichen Lieblingen, genauso wie eine Gruppe Ringelreihen tanzender Kinder mit Dorfgeiger und einem Vater, der seinen Sohn übers Knie legt, von 1840. Die Flachfiguren sind Gerteis' Favoriten, weil sich nur mit ihnen und nicht mit den fülligeren sogenannten "Bleisoldaten" oder den vollplastischen Sammlerfiguren größere Aufstellungen in Dioramen bewerkstelligen lassen. In diesen Schaukästen mit einem gemalten Horizont erzählt Gerteis Geschichte und Geschichten vornehmlich aus dem Raum an Mosel und Saar: Vom gallorömischen Landleben oder dem mittelalterlichem Fischmarkt in Trier, aber auch wie Cäsars Truppen mit den Germanen kämpften, wie Karl der Kühne zum Reichstag nach Trier kam, französische Truppen 1684 die Stadt Luxemburg eroberten, wie 1789 die Bastille gestürmt wurde oder wie die französischen Revolutionstruppen 1794 die nahe bei Konz gelegenen Pellinger Schanzen eroberten. "Bei den Dioramen fasziniert mich die Möglichkeit, so etwas wie Historienmalerei zu betreiben, geschichtliche Vorgänge in Szene zu setzen, die man sonst nur beschreiben könnte", erklärt der Historiker Gerteis. Und er gibt ein Beispiel: "Mit Zinnfiguren lässt sich eine anschauliche Vorstellung von der Größe eines Heeres vermitteln. "Sammler wollen zeigen"

Ich habe ein französisches Infanterie-Bataillon in Originalaufstellung, also 1000 Figuren. Die napoleonischen Heere bestanden aus vielen Bataillonen. Beim Anblick dieses Zinnfiguren-Dioramas wird dem Betrachter augenfällig, was für eine Masse Mensch das war, die da in den Krieg geschickt worden ist." Der pensionierte Geschichtsprofessor der Universität Trier verspürt keinesfalls Wehmut, weil er seine Sammlung aus den Händen gegeben hat, sondern sieht die Ausstellung unter anderen Vorzeichen: "Sammler wollen zeigen, und bei mir zu Hause stand zu vieles im Keller. Zudem habe ich hier die einmalige Chance, mit einem größeren Publikum zu kommunizieren. Das macht mir Spaß. So hat mich also nicht zuletzt meine pädagogische Ader veranlasst, die Sammlung nach Konz zu geben." Sabine Ganz Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag 9-18 Uhr, Montags geschlossen, Samstags, Sonntags, feiertags 10-18 Uhr, Telefonnummer: 06501-92710

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