Kassen warnen vor Missbrauch von Psycho-Pillen bei Kindern

Trier · Die Krankenkassen schlagen Alarm: Viele Kinder erhielten Psychopharmaka ohne medizinische Notwendigkeit. Vor allem die Verordnungen von Medikamenten gegen Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität haben deutlich zugenommen. Der AOK-Chef spricht von einem Missbrauch.

Trier. Die Zahl der Verordnungen des häufig bei Aufmerksamkeitsdefiziten und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) verschriebenen Wirkstoffes Ritalin ist von 2004 bis 2011 in Rheinland-Pfalz deutlich gestiegen, von 91.000 auf 115.000. Die Zahl der verordneten Tagesdosen hat sich von 1,8 auf 3,6 Millionen nahezu verdoppelt. Das geht aus einer Statistik der AOK Rheinland-Pfalz hervor, die dem Volksfreund vorliegt. Ritalin unterliegt als Betäubungsmittel mit Nebenwirkungen strengen Verordnungsvorschriften und darf nur bei eindeutiger Diagnose verschrieben werden. AOK-Chef Walter Bockemühl bezweifelt allerdings, dass Ärzte sich immer daran halten. Er spricht von einem Missbrauch.

Viele Kinder und Jugendliche würden Ritalin schlucken, ohne dass sie tatsächlich an ADHS erkrankt seien. Auch Schüler und Studenten schluckten die Pillen, um sich besser konzentrieren zu können. Viele der Verordnungen seien medizinisch nicht notwendig: "Sie geschehen auf Wunsch der Eltern", sagt Bockemühl.

Laut der Techniker Krankenkasse (TK) sind sechs Prozent der Eltern im Land der Meinung, dass ihr Kind an ADHS leidet. Das bedeute, dass statistisch gesehen in jeder Schulklasse mit 30 Schülern zwei Kinder mit dieser Diagnose sitzen, so die TK.

Auch der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Mutterhaus in Trier, Alexander Marcus, bestätigt eine Zunahme der Verordnungen - ohne dass die Häufigkeit von ADHS zugenommen habe. Als Grund nennt er veränderte "gesellschaftliche Rahmenbedingungen": "Die Angst von Eltern, dass ihre Kinder keine gute Ausbildung machen und einen qualifizierten Beruf finden würden, hat zu einem recht hohen Leistungsdruck geführt. Die Ablenkung durch moderne Medien ist allgegenwärtig, am Schreibtisch stehen PC, flimmert der Fernseher und liegt das Mobiltelefon."

Laut Krankenkasse Barmer/GEK geht mittlerweile jeder zehnte Junge zum Neurologen oder Psychiater, bei 60 Prozent davon werde ADHS diagnostiziert. Die Kasse spricht von einer Modekrankheit.

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