E-Mail-Tsunamis und Stress - Schattenseiten modernen Arbeitens

Berlin (dpa) · Lustlosigkeit, Schlafstörungen und Krankheit - Grenzenlose Flexibilität schadet laut AOK der Psyche von immer mehr Arbeitnehmern. Die Kasse fordert mehr Disziplin und klare Schranken.

 Immer erreichbar sein: Das wird heute von vielen Arbeitnehmern verlangt. Mit den Jahren kann die Belastung überhandnehmen. Foto: Arno Burgi

Immer erreichbar sein: Das wird heute von vielen Arbeitnehmern verlangt. Mit den Jahren kann die Belastung überhandnehmen. Foto: Arno Burgi

Die Forscher spannen einen weiten Bogen. Waren klare Arbeitsverhältnisse und Bürozeiten noch vor wenigen Generationen die Regel, werden die Grenzen zwischen Job und Privatleben heute für Millionen Menschen immer undeutlicher. Flexibilität könnte Vorteile bringen - doch allzu oft setzt sie die Arbeitnehmer laut Fehlzeiten-Report 2012 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) unter Stress.

Geringfügig Beschäftigte, Selbstständige, Leiharbeiter - jeder vierte der 41,5 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland arbeitet in früher untypischen Verhältnissen. Rufbereitschaft leistet jeder Fünfte. Fast jeder Zweite ist grundsätzlich außerhalb der Arbeitszeit erreichbar.

Können die Menschen überhaupt noch abschalten? In vielen Büros werden die Strukturen unklarer, es gibt weniger Zeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Und wenn die Menschen das Büro verlassen, müssen sie oft Dutzende Kilometer bis nach Hause zurücklegen. Die Zahl der Fehltage wegen Krankheit steigt laut AOK-Report mit der Distanz zwischen Haustür und Job kontinuierlich. Und dann sind viele oft immer noch per Telefon, Smartphone, Mail erreichbar.

„Beschäftigte müssen sich gegen Unsicherheit und sozialen Druck wappnen“, sagt der geschäftsführende Vorstand des AOK-Verbands, Uwe Deh. Schutz gebe es immer weniger.

Mit einer Reihe beunruhigender Zahlen schlägt der Report Alarm: 32 Prozent machen häufig Überstunden, 20 Prozent oft Samstagsarbeit, 14 Prozent arbeiten oft an wechselnden Orten. 21 Prozent fühlen sich im Gegenzug häufig erschöpft, 20 Prozent können in der Freizeit oft nicht mehr abschalten, 16 Prozent sind oft lustlos. Unter Schlafstörungen leiden 15 Prozent - 14 Prozent bezeichnen sich als reizbar.

Was lastet auf den Betroffenen? Gearbeitet wird immer öfter, wenn Arbeit da sei, so die Herausgeberin des Reports, Antje Ducki. Gegen solcherlei Fremdbestimmtheit sieht sie die Firmen gefragt.

Beispiel E-Mail-Flut: Die Zeit der Menschen werde immer mehr online aufgesaugt. „Die Unternehmen sind gefordert, die Beschäftigten davor zu bewahren, im E-Mail-Tsunami unterzugehen.“ Im Wettbewerb um die begehrten Fachkräfte müssten viele Chefs insgesamt zulegen. „Zu einem attraktiven Arbeitgeber gehörten auch attraktive Arbeitsbedingungen.“

Dass die Zahl psychischer Erkrankungen zunimmt, weisen die Krankenkassen Jahr für Jahr in immer neuen Studien nach. Der neue Report zeigt eine Steigerung von 120 Prozent binnen sieben Jahren. Laut Co-Herausgeber Helmut Schröder liegen die psychischen Leiden bei den Krankheitstagen zwar auf Platz vier hinter Muskel-Skelett- und Atemwegserkrankungen sowie Verletzungen. Doch während Arbeitnehmer mit einer Grippe im Schnitt nur bis zu 7 Tage krankgeschrieben sind, fehlen psychisch Erkrankte im Schnitt mehr als 22 Tage.

Immer weitere Pendelwege, Überstunden, Arbeit auch daheim, ständige Erreichbarkeit - Millionen sind betroffen. Ist diese steigende Flexibilität alleine die Ursache für die rasante Zunahme der seelischen Krankheiten? Aus der Statistik lässt sich das zwar nicht herauslesen. Zumindest sei hierin aber ein wesentlicher Baustein zu finden, ist Herausgeber Schröder überzeugt.

Die Vermischung von Arbeit und Freizeit macht laut Ducki Freelancer immer mehr zum Prototyp der modernen Arbeitswelt. Diese Selbstständigen laufen für ihre wechselnden Projekte zu Hochform auf - mit riesigem Engagement. Doch Selbstschutz wird oft kleingeschrieben. Viele beuten sich aus. Typisch: Das Gefühl, ein Sicherheitsnetz zu haben, fehlt.

Eindringlich plädieren die Autoren des Reports für mehr Selbstorganisation und Gesundheitsvorsorge. Auch Unternehmen müssten aber immer stärker darauf achten, ihre Beschäftigten vor dem Ausbrennen zu schützen. Stabilität heißt das Zauberwort: Stringente Planung und längerfristige Perspektiven schaffen Sicherheit.

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