„Streiten ist gesund“ - Geschwisterexperte rät Eltern zu Gelassenheit

Streiten unter Geschwistern ist für die Entwicklung von Kindern wichtig – das sagt Joachim Armbrust, Familienberater, Psychotherapeut, Diplom-Sozialpädagoge und Buchautor. Der dreifache Vater ist Spezialist in Sachen Geschwisterbeziehungen.

Warum streiten sich Geschwister überhaupt? Joachim Armbrust: Streit kann viele Ursachen haben: Wenn beispielsweise Max der Mia die Schokolade wegnimmt oder sie zwickt, dann gibt es eine Reaktion. Max erfährt unmittelbar nach seiner Handlung, was diese auslöst. Mia wird böse werden, und es kommt wahrscheinlich zum Streit. Die persönliche Grenze von Mia wurde überschritten und nun wehrt sie sich. Ich bezeichne Streit gerne als Lernwerkstatt im Geschwister-Forschungslabor. Hier lernen sie Grenzen, testen aus und machen Erfahrungen. Welche Ursachen haben Reibereien unter Geschwistern?Joachim Armbrust: Zum einen hat jedes Kind seine eigenen Bedürfnisse und will dafür seinen eigenen Lebensraum. Zum anderen geht es oftmals schlicht um ein Kräftemessen: dann wollen Jüngere etwa Älteren beweisen, dass sie längst die Dinge können, die die Großen können. Häufig geht es um das Buhlen der Gunst von Mutter oder Vater. Da will sich jeder ins richtige Licht stellen und sich selbst positionieren. Und das ist im Prinzip gut so! Denn jeder muss lernen seinen Standpunkt zu vertreten, wo geht das eben besser als bei einer Auseinandersetzung? Sollten sich Eltern in Geschwisterstreitigkeiten einmischen? Joachim Armbrust:Eher nein. Viele Eltern sollten mehr Gelassenheit in diesen Dingen entwickeln. Kinder sind unterschiedlich, und wenn unterschiedliche Wesen aufeinandertreffen, kommt es nun mal zu Reibereien. Grundsätzlich sollten sich die Eltern fragen, warum die Kinder aneinandergeraten. Streiten ist gesund, denn man lernt, sich zu positionieren, man lernt die Versöhnung und Mitgefühl zu entwickeln und man lernt, Kompromisse einzugehen. Wenn jedoch Streit in Handgreiflichkeiten ausartet, dann müssen Eltern eingreifen. Was können Eltern beitragen, dass es friedlich zugeht unter Geschwistern?Joachim Armbrust: Zunächst einmal gilt: Eltern sollten stets Vorbilder sein, Werte setzen und Umgangsformen aufstellen. Dem Wunsch, allen gleich gerecht zu werden, dem kann niemand folgen. Gerechtigkeit besteht nicht in Gleichbehandlung, denn jedes Kind ist anders. Das eine laut und quirlig, das andere vielleicht zurückgezogen und eher still – und es ist gut so, das müssen Eltern für sich annehmen. Auf das Wesen des Kindes einzugehen, darin liegt ein wichtiger Faktor. Streiten an sich ist gesund und muss auch sein. Eltern können jedem Kind individuelle Räume ermöglichen: ein eher ruhiges Kind sollte die Möglichkeit haben, mal in Ruhe etwas machen zu können, so wie der Quirlige seine überschüssige Energie vielleicht im Sport abbauen kann. Streit gehört zum Leben dazu! Emotionen sind abrufbare Handlungsbereitschaften – wenn mir also Bruder oder Schwester mein Lieblingstier wegnehmen, dann will ich es wiederhaben und bin böse oder sauer. Das wird einen Konflikt hervorrufen – und der muss in geregelten Bahnen ausgetragen werden. Kinder, die immer alles unterdrücken müssen, werden später nicht gelernte und akzeptierte Gefühle tief aus dem Keller der Seele holen und dann Probleme bekommen.

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