Kommentar: Ein Apfel hilft auch

Auf mehr als fünf Milliarden Euro jährlich schätzt das Marktforschungsinstitut AC Nielsen den Umsatz mit functional food. Die Designernahrung boomt. Nahrungsmittelkonzerne gründen eigens Untergesellschaften, um von dem Wachstumsmarkt stärker zu profitieren.

Unter functional food, den funktionellen Lebensmitteln, versteht die Branche Nahrung mit einem zusätzlichen Nutzen für den Verbraucher, der über Sättigung oder Genuss hinaus geht und zur Verbesserung des Gesundheitszustands, des Wohlbefindens beiträgt oder das Risiko für bestimmte Krankheiten verringert. Weil es sich um eine Art von Zwitter-Produkten handelt, die zwischen Nahrung und Medizin liegen, werden sie auch Nutraceuticals genannt. Das ist eine Wortkombination aus Nutrition (Ernährung) und Pharmaceuticals (Medikamente).

Bekannte functional-food-Produkte sind probiotische Lebensmittel, die lebende Milchsäurebakterien enthalten und positiv auf die Darmflora wirken sollen. Sie werden zum Beispiel Joghurt, Quark und Käse zugesetzt. Häufig zu finden ist auch Omega-3-Brot. Omega-3-Fettsäuren sind mehrfach ungesättigte Fettsäuren, denen eine Schutzwirkung vor Herz- und Kreislauferkrankungen zugeschrieben wird. Cholesterin senkende Margarine ist ein Standardprodukt in vielen Supermärkten.

Das Urteil der Ernährungswissenschaft über functional food ist überwiegend skeptisch. Hans-Georg Joost, wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung, formuliert vorsichtig: "Auch die Entwicklung funktioneller Lebensmittel kann dazu beitragen, Menschen gesund zu erhalten oder ihnen zumindest eine gesunde Ernährungsweise zu erleichtern". Peter Stehle von der Universität Bonn hält die grundlegende Idee für zukunftsfähig, aber er fordert, die Entwicklung der Produkte sollte sich an tatsächlichen Ernährungsproblemen ausrichten, und es sollte kontrollierte Interventionsstudien zum Beleg der postulierten Effekte geben. Die Anreicherung von Produkten mit Vitaminen, Mineralstoffen und anderen Wirkstoffen werde bei einer sowieso guten Versorgungslage mit diesen Nährstoffen keinen positiven präventiven Effekt erzeugen können. Im Gegenteil: Aktuelle Auswertungen zeigten, dass eine hohe, deutlich über den Empfehlungen liegende Zufuhr an Mikronährstoffen möglicherweise unerwünschte Folgen habe.

Ähnlich urteilt die AOK. Wer sich abwechslungsreich und ausgewogen ernähre, habe normalerweise keinen Nährstoffmangel.

Damit sich der Verbraucher selbst ein Urteil bilden kann, ob die zumeist teureren nutraceuticals halten, was sie versprechen, sollte die Werbung glaubwürdig sein. Die Essenswächter von foodwatch haben einem Trinkjoghurt 2009 den Preis goldener Windbeutel für die dreisteste Werbelüge verliehen. Die EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit überprüft gerade Gesundheitsversprechungen. Nur wer beweisen kann, dass ein Nutraceutical auch wirklich den Cholesterinspiegel senkt, die Verdauung fördert oder Krebs vorbeugt, darf auch damit werben. Das könnte dem Verbraucher mehr Sicherheit bei seinen Kaufentscheidungen geben. Grundsätzlich gilt, wer krank ist, sollte zum Arzt und in die Apotheke gehen, nicht in den Supermarkt. Wer gesund ist, für den ist functional food häufig überflüssig. "An apple a day keeps the doctor away" (ein Apfel am Tag hält den Arzt fern), sagt ein englisches Sprichwort. Daran ist viel Wahres.

Der Autor ist ehemaliger Handelsblatt-Chefredakteur.

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