Noch gültig oder überholt: Neuer Blick Blick auf alte Schriften

Vor 145 Jahren erschien "Das Kapital" von Karl Marx. Angesichts von Globalisierung und Wirtschafts- und Finanzkrise sind die Thesen des in Trier geborenen Philosophen und Gesellschaftstheoretikers Karl Marx wieder stark diskutiert. Der Bamberger Soziologe und Autor Fritz Reheis erläutert einige der Thesen von Karl Marx.

Im Kapitalismus, so sagt Karl Marx, dient die Arbeit des Menschen nicht dazu, deren Bedarf zu decken, sondern Kapital zu vermehren. Arbeit soll einen Überschuss erwirtschaften, der sich in Geld verwandeln lässt, das wiederum investiert wird, um mehr Geld zu "produzieren". Marx spricht von einem System des "Produzierens um der Produktion willen".

Fritz Reheis: Marx hat treffend erkannt, dass Geld nur investiert und Arbeitskraft nur eingesetzt wird, wenn am Anfang klar ist, dass sich am Schluss das Geld vermehrt hat. Deshalb wird weltweit vor allem dort investiert, wo die Menschen schon alles haben, und nicht dort, wo es am Allernötigsten fehlt. Jeden Tag sterben 25 000 Kinder an Hunger und Krankheiten, weil sie über keine Kaufkraft verfügen und deshalb für die Geldvermehrung nicht zu gebrauchen sind. Das ist Kaufkraftrassismus! Und wenn dort, wo die Menschen übersatt sind, der Absatz einmal stockt? Dann verkündet die Regierung eben Abwrackprämien. Sie sagen: Werft Eure guten Sachen weg, wir schenken euch Geld, damit ihr was Neues kauft! Der Wachstumszwang ist elementar, Güter und Dienstleistungen sind zu Nebenprodukten verkommen. Das wird verharmlosend ‚Sachzwang‘ genannt. Er ist aber von Menschen gemacht und durch Menschen auch veränderbar.

Menschen werden aus der Marx'schen Perspektive nicht durch herausragende Leistungen reich, sondern weil sie Menschen ohne eigene Produktionsmittel für sich arbeiten lassen. Die Trennung von Eigentum und Arbeit ist die strukturelle Voraussetzung für den Gegensatz von Armut und Reichtum. Für Marx verschärft sich der Klassengegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie immer mehr. Konsequenz ist die Konzentration des Kapitals in den Händen weniger und die Verelendung der Masse.

Fritz Reheis: Hier muss Marx etwas korrigiert werden. Er hatte eine vereinfachte Sicht auf die Klassenstrukturen. Die sind heute vielfältiger, die Interessen sind nicht so klar abgegrenzt. Aber dass es einen fundamentalen Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital gibt, damit hatte Marx recht. Denn die Produktion steht unter dem Kommando des Kapitals, das weitgehend bestimmt, wo, wann und wie gearbeitet wird. Heute gibt es Klassenstrukturen nicht nur innerhalb von Gesellschaften, sondern auch zwischen ihnen. Der amerikanische Soziologe Immanuel Wallerstein gliedert die Weltwirtschaft in kapitalistische Zentren (globale Kapitalisten), Halbperipherie (globaler Mittelstand) und Peripherie (globales Proletariat). Der ungleiche Tausch im Welthandel sorgt für die Aufrechterhaltung dieser Strukturen. Sie sind die Folge jenes Prozesses, den Marx ‚ursprüngliche Akkumulation‘ nannte, die Enteignung der Menschen der heutigen Dritten Welt. Für Indien etwa, vormals ein hoch entwickeltes Land mit blühendem Handwerk, war die Ankunft der Engländer eine Katastrophe. An der Kolonisierung leiden die Dritte-Welt-Völker bis heute, auch wenn sie politisch unabhängig geworden sind.

Die Produktion um der Produktion willen erzeugt Überkapazitäten. Gleichzeitig erhöht sich der Wert des kon stanten Kapitals (Maschinen, usw.) im Vergleich zum variablen Kapital, der Arbeitskraft. Weil der Erhalt von Maschinen Geld bindet, sinkt die Profitrate. Marx schreibt: "Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst." Krisen entstünden, wenn mit mehr eingesetztem Geld weniger Profit gemacht wird.

Fritz Reheis: Marx‘ Aussage über die fallende Profit rate ist nicht ganz überzeugend. Er hat ja auch von entgegenwirkenden Faktoren gesprochen. Was für mich in Hinblick auf die Erklärung von Krisen eher plausibel ist, ist der von Marx erkannte Grundwiderspruch zwischen individueller und kollektiver Rationalität: Für den Unternehmer ist es klug, wenig Lohn zu zahlen. Er hofft jedoch, dass andere hohe Löhne zahlen, damit die Kaufkraft ausreicht, alles abzusetzen. Weil im Kapitalismus der Zusammenhang zwischen dem Wert der Ware Arbeitskraft und der Kaufkraft der Gesellschaft nicht kollektiv geplant wird, ist es Zufall, wenn beide zusammenfallen. Der Widerspruch zwischen individueller und kollektiver Vernunft zeigt sich auch an der Ungleichartigkeit von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften: erstere sind meist privat ausgerichtet, zweite gesellschaftlich orientiert. Daran muss Marx zufolge der Kapitalismus eines Tages zugrunde gehen. Mit jeder neuen Krise können wir diese innere Widersprüchlichkeit klarer erkennen.

Laut Marx hat das Bürgertum die materielle und geistige Entwicklung des Menschen gefördert. Die bürgerliche Ordnung führe jedoch zu neuen Ungleichheiten und Unfreiheiten. Nur ihre Form ändere sich: Menschen unterwerfen sich nicht mehr konkreten Personen, sondern anonymen Strukturen. Nach Marx dient der Staat im Kapitalismus der Absicherung der Klassenverhältnisse zwischen Kapitalist und Arbeiter. Er unterwirft sich dem Druck des Kapitals.

Fritz Reheis: Das Bürgertum hat, so Marx, die Menschheit aus den feudalen ständischen Verhältnissen mit ihren religösen ‚Flausen‘ herausgeführt und sie dazu erzogen, klar zu denken. Er schreibt: ‚Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente barbarischste Nationen in die Zivilisation … Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen … Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.‘ Das finde ich eine auch sprachlich starke Passage aus dem Kommunistischen Manifest (1848). Es klingt wie die Beschreibung der heutigen Globalisierung. Die Unterwerfung unter das Wachstumsdiktat des Kapitals erfasst ja die gesamte Welt, auch die Bürger und Staaten. Die Wähler beurteilen Parteien in erster Linie danach, ob sie wirtschaftskompetent sind, ob sie das Wirtschaftswachstum fördern. Deutschland wird bewundert, weil es so gut durch die letzte Krise gekommen ist. Ich erinnere an das Wachstumsbeschleunigungsgesetz von 2009, das die Voraussetzung dafür geschaffen hat, dass wir Waffen und Luxusautos in die ganze Welt, auch nach Südostasien verkaufen. Das ist die Perversion der Aufklärungsidee von der Mündigkeit des modernen Menschen: An Stelle der Kirche sind heute die Märkte, insbesondere die Finanzmärkte getreten, die den Menschen das Denken abnehmen und ihnen sagen, was sie zu tun haben.

Marx schreibt, dass die stete Steigerung der Produktion weder Rücksicht auf den arbeitenden Menschen, noch auf die Grundlage aller Produktion nimmt - die Natur. Dies hänge mit der Eigentumsverfassung der bürgerlichen Gesellschaft zusammen. Sie macht alles, die Arbeitskraft und auch die Erde zum "privaten" Eigentum. Dem stellt Marx gegenüber: "Selbst … alle Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias (gute Familienväter) den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen."

Fritz Reheis: Da möchte ich gar nichts hinzufügen. Das trifft! Da war Marx ein sehr hellseherischer Denker, indem er als Theoretiker der Arbeiterbewegung vor 150 Jahren erkannte, dass die Erde dasselbe Schicksal erleiden wird wie der Arbeiter. Das sollten jene Zeitgenossen, die Marx auf den Müllhaufen der Geschichte werfen wollen, sich hinter die Ohren schreiben. Eine Bemerkung zum Schluss: Es wird immer nach der Alternative zum Kapitalismus gefragt. Aus der Marxschen Perspektive käme es jenseits des Kapitalismus darauf an, dass die Wirtschaft zu allererst der Reproduktion des Menschen, seinem Lebensunterhalt, und der Natur dient. Zweck der Wirtschaft ist die "Daseinsvorsorge", heißt es in der Verfassung des Freistaats Bayern. Und ‚Nachhaltigkeit‘ gilt als Leitbild für die globale Entwicklung. Für beide Ziele haben wir in Marx einen kompetenten Fürsprecher."

PODIUMSDISKUSSION



Karl Marx' Analyse des Kapitalismus hat wieder Konjunktur. Bei einer Podiumsdiskussion am Donnerstag, 3. Mai, in Trier geht es um die Frage "Kapitalismus in der Krise: Hat Marx recht?". Es diskutieren der Autor Fritz Reheis und Michael Dauderstädt, Leiter der Abteilung Wirtschaft und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn. Beginn ist um 19.30 Uhr im Karl-Marx-Haus in Trier, Brückenstraße 10. Die Moderation übernimmt TV-Redakteur Dieter Lintz.

BUCH



Fritz Reheis: "Wo Marx recht hat", Primus Verlag, Darmstadt, 208 Seiten, gebunden, 19,90 Euro, ISBN: 978-3-86312-327-7

ZUR PERSON



Fritz Reheis, Jahrgang 1949, war 20 Jahre lang Gymnasiallehrer. Er promovierte in Soziologie mit dem Nebenfach Politikwissenschaft und habilitierte sich in Erziehungswissenschaften, Schwerpunkt Anthropologie. Von 1989 bis 2005 war er Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen. Seitdem ist er Dozent am Lehrstuhl Politikwissenschaft der Universität Bamberg, seit 2007 als akademischer Oberrat und Fachvertreter für Politische Bildung/ Didaktik der Sozialkunde. Seit 2008 arbeitet er als Privatdozent. Reheis schreibt seit 1990 Bücher und tritt als Referent auf.

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