"Statistische Daten sind ein Zahlenkompass"

Jörg Berres, Präsident des Statistischen Landesamts Rheinland-Pfalz, über Potenzial, Bedeutung und Grenzen regionaler Konjunkturbeobachtung.

Wie sieht der Auftragsbestand im Handwerk aus? Wie viele Güter wurden in der Industrie produziert? Und wie viele Menschen sind im Dienstleistungsbereich beschäftigt? Das rheinland-pfälzische Landesamt für Statistik mit Sitz in Bad Ems blickt jeden Monat auf die Konjunktur im Bundesland. Wie aber kommen die Statistiker an die Daten für ihre Analysen? Wie verlässlich sind diese Zahlen? Und: Wem nützt das? Ein Interview mit Jörg Berres, Präsident des Statistischen Landesamtes.

Derzeit häufen sich wieder die Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung. Schaut das Statistische Landesamt auch in die Zukunft?
Berres: Wir sind für die harten Fakten zuständig. Wir erstellen keine Konjunkturprognosen. Wir haben ein Bündel von Erhebungen, die die Veränderung und die Struktur der Wirtschaft abbilden sollen. Also quasi den Ist-Zustand. Dafür befragen wir Unternehmen in Rheinland-Pfalz etwa nach Auftragseingängen, Umsätzen und dem Beschäftigungsstand. Die Daten von den Statistischen Ämtern sind aber wichtige Bausteine für Institute, die Prognosen aufstellen.

Wenn das Landesamt in die Zukunft schaut, heißt das Projektion. Etwa bei der Frage, wie sich die Bevölkerung entwickeln wird. Wo ist der Unterschied zur Prognose?
Berres: Bei der Bevölkerungsentwicklung gibt es relativ stabile Paradigmen wie die Geburtenrate und die Lebenserwartung. Die kann man relativ gut aus der Vergangenheit für die kommenden Jahre abschätzen. Wir projizieren also die Entwicklung in die Zukunft. Aber im Unterschied zur Prognose geben wir keine Eintrittswahrscheinlichkeit an.

Das Landesamt analysiert monatlich, wie sich Rheinland-Pfalz wirtschaftlich entwickelt. Auf Basis welcher Daten geschieht das?
Berres: Unternehmen und Betriebe erhalten von uns Erhebungsbögen beziehungsweise Zugangsdaten zur elektronischen Übermittlung. Daneben nutzen wir Verwaltungsdaten. Im Handwerk etwa werten wir Daten der Finanzverwaltung aus, also die Umsatzsteuervoranmeldung. Von der Bundesagentur für Arbeit bekommen wir die Beschäftigungsdaten. Bei der Handwerksberichterstattung konnten wir so 30 000 Betriebe von der Statistik entlasten.

Entlasten, weil es viel Arbeit für die befragten Betriebe bedeutet?
Berres: Das ist das Spannungsfeld: Auf der einen Seite gibt es ein Interesse an hochaktuellen und auch tief gegliederten Zahlen. Auf der anderen Seite steht die Belastung der Wirtschaft. Der Aufwand sollte natürlich nicht zu-, sondern abnehmen. Deswegen beschränken wir die Befragungen auf einen Ausschnitt. Im Handel und Gastgewerbe machen wir nur eine Stichprobe. Im Gastgewerbe sind es monatlich rund 250 Unternehmen, also etwa zwei Prozent aller Betriebe. Im Handel haben wir monatlich etwa 1900 Einzelhandelsunternehmen im Berichtskreis, im Großhandel sind es 380 Betriebe, jedoch ergänzt durch Verwaltungsdaten. Leider können wir nicht überall Verwaltungsdaten nutzen. Für die aktuellen Statistiken liegen diese meist viel zu spät vor. Wenn wir etwas über die Konjunktur aussagen wollen, ist der Faktor Zeit wichtig, da benötigen wir schnelle Ergebnisse.

Dafür brauchen wir die klassische Form, indem wir die Betriebe direkt befragen. Wonach entscheidet sich, wer befragt wird?
Berres: In der Industrie gibt es beispielsweise eine sogenannte Abschneidegrenze: Von den 15.000 Industriebetrieben in Rheinland-Pfalz befragen wir 1000 Betriebe mit 50 und mehr Beschäftigten. Es ist nicht möglich, aber auch nicht nötig, dass wir mehr Unternehmen befragen. Wir erhalten auch so ein zuverlässiges Bild der wirtschaftlichen Entwicklung. Bei den Stichprobenerhebungen im Handel und Gastgewerbe findet regelmäßig eine Rotation statt, so dass insbesondere die kleineren Betriebe auch mal aus der Berichtspflicht entlassen werden. Das sind vorgeschriebene Stichprobenverfahren, die bundesweit einheitlich angewendet werden, da gibt es keine Willkür.

Geht nicht viel verloren an Informationen über die Lage der Wirtschaft, wenn Industriebetriebe mit weniger als 50 Mitarbeitern erst gar nicht befragt werden?
Berres: Einmal im Jahr führen wir eine Strukturerhebung durch. Wir befragen etwa 2200 Betriebe ab 20 Mitarbeitern. Dann können wir die Daten teilweise bis auf die Kreisebene herun terbrechen oder sie nach einzelnen Wirtschaftsbereichen gliedern. Das ist ganz wichtig zu unterscheiden: Monatlich wollen wir die Konjunktur beobachten. Dafür brauchen wir weniger Betriebe. Einmal im Jahr wollen wir etwas über die Struktur der Industrie erfahren. Dafür befragen wir dann die doppelte Menge.

Warum ist es wichtig, Konjunkturdaten zu erheben?
Berres: Die Konjunkturdaten oder auch die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts sind wichtige Kriterien für die Beurteilung der Wirtschaftslage. Die Politik nutzt solche Zahlen, um festzustellen, ob es einen wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf gibt oder um zu prüfen, ob Maßnahmen Erfolg haben. Wie etwa bei den Konjunkturpaketen zur Bekämpfung der Konjunktur- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2008 und 2009. Da hat man gesehen: Die Wirtschaft gleitet in eine Rezession oder gar in eine Depression ab, und man musste Gegenmaßnahmen ergreifen. Statistische Daten bieten die Möglichkeit, einen Trend festzustellen. Sie sind ein Kompass für die Entwicklung der Konjunktur und der Wirtschaft. Ohne diesen Zahlenkompass lassen sich keine zielgerichteten Maßnahmen ergreifen.

Wie nutzen die Unternehmen selbst die Daten?
Berres: Jeder Unternehmer kann seine eigenen Zahlen mit den Ergebnissen in der ganzen Branche vergleichen, um dann seine Schlüsse zu ziehen.
Etwa: Ist es jetzt günstig, zu investieren, oder besser, abzuwarten? Oder er nimmt die Zahlen, um die eigene Produktpalette zu überprüfen.

Und welche Auswirkungen haben Ihre Analysen auf den einzelnen Bürger?
Berres: Wenn Bürger davon hören, dass es einen Konjunkturaufschwung gibt, dann sind sie vielleicht etwas mutiger, mehr Geld auszugeben. Man gibt auch größere Beträge eher aus, wenn man erwartet, dass der eigene Arbeitsplatz sicher ist.

Wie geht es Rheinland-Pfalz wirtschaftlich derzeit?
Berres: Ich hole ein bisschen aus: Die weltweite Finanzkrise im Jahr 2009 hat sich sehr stark auf die Realwirtschaft ausgewirkt. Das führte in Rheinland-Pfalz zu einer Schrumpfung der Wirtschaftsleistung um real viereinhalb Prozent.
Grund ist die Struktur unserer Wirtschaft: Wir sind sehr industriegeprägt, und die Industrie ist stark international ausgerichtet. Über 53 Prozent der im verarbeitenden Gewerbe produzierten Güter werden exportiert. Deswegen waren wir relativ hart vom weltweiten Konjunktureinbruch betroffen. Dagegen hat der Baubereich in dieser Phase - auch dank der Konjunkturprogramme - ein relativ kleines Minus gehabt, auch das Minus beim Dienstleistungssektor war moderat. In der Region Trier verzeichneten wir einen nicht so starken Einfluss der Krise. Im Jahr 2009 ist dort das nominale Bruttoinlandsprodukt um 2,1 Prozent zurückgegangen. In dieser Region ist der Industrieanteil geringer. Handel und Dienstleistung stehen im Vordergrund. Für heute ist wichtig: Wir sind sehr gut aus dieser großen Krise herausgekommen. 2010 hatten wir im Land ein Wachstum von 3,4 Prozent, 2011 von 3,3 Prozent. Die Impulse kamen vor allem aus dem Industriebereich und im Wesentlichen aus dem Ausland. Im ersten Halbjahr 2012 verlief die Entwicklung etwas verhaltener, - wenngleich mit 1,4 Prozent plus beim Bruttoinlandsprodukt immer noch sehr gut.
Zur Person

Jörg Berres ist seit 2004 Präsident des Statistischen Landesamtes und damit auch Landeswalhleiter. Der 54-jährige Diplom-Nachrichteningenieur und Diplom-Sozialwirt ist in Wittlich geboren und in Bad Bertrich aufgewachsen. Von 1989 bis 1991 war er Referent im rheinland-pfälzischen Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau unter anderem für innerdeutsche Wirtschaftsintegration. Anschließend leitete er das Referat Konversion militärischer Liegenschaften. Von 1995 bis 2001 war er kaufmännischer und technischer Geschäftsführer der Flughafen Hahn GmbH und danach Koordinator des Landes Rheinland-Pfalz für die "Verlegung der US-Streitkräfte von Rhein-Main Air Base auf die US-Flugplätze Ramstein und Spangdahlem".

Strukturwandel in der Wirtschaft verlangt neue Systematik

"Der Industriebereich, das verarbeitende Gewerbe, nimmt sukzessive ab, der Dienstleistungsbereich wird größer. Es kommen neue Unternehmens- und Produktbereiche hinzu." So beschreibt Jörg Berres den Strukturwandel in der Wirtschaft in den vergangenen 20, 30 Jahren. Weil sich die Wirtschaft verändert, gibt es in unregelmäßigen Abständen eine Novellierung der Wirtschaftszweigsystematik. Sie legt fest, ob ein Unternehmen etwa dem produzierenden Gewerbe oder dem Dienstleistungsbereich zuzurechnen ist.

Eine solche neue Klassifikation, die laut Berres "erhebliche strukturelle Änderungen aufweist", gab es 2008. Besonders der Dienstleistungsbereich wird stärker differenziert. Mehrere Abschnitte, wie etwa "Information und Kommunikation", sind neu. Dort findet sich auch das Verlagswesen, das früher dem verarbeitenden Gewerbe zugeordnet war.

Mit der jüngsten Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) wurde die Änderung der Wirtschaftszweigsystematik dort nachvollzogen.

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