Zeit zum Umdenken: Sind wir reif für die Alten?

Rente mit 60 ist passé, die bisherigen Formen des Vorruhestands gibt es nicht mehr. Vielmehr erzwingen die demografische Ent wicklung und der Fach kräftemangel längere Lebensarbeitszeiten. Was bedeutet das für Arbeitnehmer und Arbeitgeber?

Martha K. ist Sozialpädagogin bei einer Suchtberatungsstelle eines Oberzentrums nahe der Region Trier. Und sie ist seit mehr als drei Jahren immer wieder krank geschrieben. Nicht die einseitige körperliche Belastung durch ständiges Sitzen machen der 61-Jährigen so zu schaffen, dass eine erfolgreiche Rückkehr in den Job nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in einer Reha klinik unwahrscheinlich ist. Auch der Termindruck durch die enge Abfolge von Klienten- und Teamgesprächen sowie die nebenbei zu erledigenden bürokratischen Aufgaben sind es nicht: "Jeden Tag das Unglück anderer Leute anzuhören höhlt regelrecht aus, trotz des professionellen Abstands, den wir Sozialpädagogen natürlich haben. Man verliert den Glauben, irgendetwas bewirken zu können", sagt sie offen. Hinzu komme, dass die Klientenkontakte immer wieder Ansteckungsrisiken von Grippe mit sich bringen. Bei Martha K. hat so ein Teufelskreis von ständigen Atemwegsinfektionen und immer unwirksameren Antibiotikabehandlungen begonnen. "Ich werde früher in Rente gehen müssen, auch wenn ich dadurch spürbare finanzielle Einbußen habe", berichtet sie.

Das Argument, Menschen in Berufen ohne überdurchschnittliche körperliche Beanspruchung seien leicht in der Lage, den geforderten Renteneintritt mit 67 Jahren zu bewältigen, zieht also nicht immer. Selbst dann, wenn der Arbeitgeber wie im Fall von Martha K. gern bereit ist, den älteren Arbeitnehmer weiter zu beschäftigen und dessen Kompetenzen dringend braucht. Umgekehrt gibt es Beispiele, wie selbst im Handwerk Arbeitnehmer über 50 oder 60 Jahren gut eingebunden und weiterhin motiviert sind.

Karin Oster ist Dachdeckermeisterin und leitet gemeinsam mit ihrem Ehemann ein Familienunternehmen in Bernkastel-Kues mit 25 Mitarbeitern. Fünf von ihnen gelten als älter, das heißt, sie sind um die 50 und mehr. "Wir achten darauf, dass die Tätigkeiten den individuellen Fähigkeiten angepasst sind. So erledigen die Älteren den Gerüstbau nicht mehr allein, sondern sie werden dabei von den Jüngeren unterstützt. Viel Erfahrung braucht man für die Planung der Baustellen und erst recht für traditionelle Handwerkstechniken, die beispielsweise bei Sanierungsprojekten zum Einsatz kommen." Zwar seien gerade bei kleineren Handwerksbetrieben körperliche Belastungen unvermeidbar und somit auch die alterstypischen Anfällig keiten wie Rücken- und Gelenkbeschwerden nicht zu übersehen. Prävention wie eine Rückenschule sei nur schwer in die betrieblichen Abläufe einer kleinen Firma zu integrieren. Dennoch: Erst vor kurzem hat das Unternehmen einen erfahrenen 55-Jährigen eingestellt.

"Wenn die Älteren ständig weitergebildet werden und zum Beispiel die neuen Vorgaben für ressourceneffizientes Bauen beherrschen, ist es ideal", sagt Oster. "Wir können uns darauf verlassen, dass es draußen auf den Baustellen gut funktioniert, wenn da sehr erfahrene Leute arbeiten. Die haben auch die Geduld, den Azubis etwas beizubringen." Mit anderen Worten: Die Älteren sorgen dafür, dass der Betrieb jung bleibt.

Ein großes Unternehmen wie die Bitburger Braugruppe mit ihren 1800 Beschäftigten hat im Vergleich zum kleinen Handwerksbetrieb ganz andere Voraussetzungen, ältere Arbeitnehmer einzubinden. Doch die grundsätzlichen Anforderungen sind dieselben: Es geht um Fortbildung und Gesundheitsmanagement. "Wir sind mit der demografischen Entwicklung gleich doppelt konfrontiert", erläutert Geschäftsführer Alfred Müller. "Einerseits werden unsere Konsumenten älter, und mit ihrem veränderten Konsumverhalten wandeln sich auch die Ansprüche an Produkte und Verpackungen. Zum anderen ist die Demografie eine unternehmensinterne Herausforderung bei einer Belegschaft, die im Schnitt 45 Jahre alt ist und nur eine geringe Fluktuation aufweist."

Gemeinsam mit dem Gesamtbetriebsrat hat die Unternehmensleitung einen Weg gefunden, eine sogenannte lebensphasenorientierte Personalpolitik zu verwirklichen. Herausforderung Zukunft wurde das Konzept mit den Schwerpunkten Arbeitsorganisation, lebenslanges Lernen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Gesundheitsmanagement sowie Vorruhestand genannt. "Unsere Bitburger Übergangsrente funktioniert individuell und ist ein Ersatz für die bisherige staatliche Vorruhestands regelung", sagt Personal leiter Theo Scholtes. Dieses branchenweit einzigartige Brückenrentenmodell verbindet einen Unternehmensanteil mit einem Eigenanteil des Ruheständlers. Es soll Renteneinbußen zu kompensieren, wenn gesundheitliche Einschränkungen eine Weiterbeschäftigung unmöglich machen.

Doch bevor es soweit ist, dass eine 55-jährige Arbeitskraft mit mehr als zehn Jahren im Betrieb die Bitburger Übergangs rente für vier bis zehn Jahre in Anspruch nimmt, tut sich viel, um sie arbeitsfähig und motiviert zu halten. "Es fängt mit Aufklärung zu Gesundheitsthemen, mit medizinischen Untersuchungen und mit betrieblichen Sportgruppen an", erklärt Müller. "Schon kleine ergonomische Verbesserungen am Arbeitsplatz wie höhenverstellbare Schreibtische vermeiden überflüssige Belastungen." Bei der in der Branche unumgänglichen Schichtarbeit wurde der jeweilige Schichtbeginn eine Stunde nach hinten verlegt. "Das entspricht eher dem Biorhythmus der Beschäftigten."

Da rund 1400 Arbeits plätze der Braugruppe Computerkenntnisse bedingen, die ständig aktualisiert werden müssen, hat sich auch die Fortbildung den Erfordernissen einer alternden Belegschaft angepasst. "Wir nutzen differenziertere Lernformen wie etwa das e-Learning, das den Arbeitnehmern gestattet, online dann zu lernen, wann es ihnen am besten passt", sagt Müller. "Und die Unterrichtseinheiten wurden verkürzt, so dass die Aufmerksamkeit nicht abflacht."

Mit dem Paket namens Herausforderung Zukunft sieht sich die Bitburger Braugruppe gut gerüstet für die demografische Entwicklung. Allein: "Es gibt wenig Bewerbungen von Menschen, die älter sind. Dabei haben wir keine Vorbehalte. Beispielsweise im Außendienst brauchen wir doch die Menschenkenntnis, die Beziehungsfähigkeit und auch die gewachsene regionale Verbundenheit der Mitarbeiter", betont Scholtes. "Da haben wir gerade erst einen 55-Jährigen eingestellt, der perfekt passt."

Alle Beispiele aus der Region zeigen eines: Ältere Arbeitslose sollten nicht entmutigt die Suche nach einem neuen Job aufgeben. Und ältere Arbeitnehmer können ihre besonderen Fähigkeiten auch in junge Teams selbstbewusst einbringen. Sie werden gebraucht.

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