Zu bequem, um wahr zu sein? - Wohlfühlen einfach einkaufen

Der Trend zu sogenanntem functional food oder auch anderen funktionellen Produkten ist ungebrochen: Gemeint sind Nahrungs- oder auch Körperpflegemittel, denen die Hersteller einen definierten Mehrwert für Gesundheit und Wohlbefinden der Konsumenten zuschreiben.

Zu bequem, um wahr zu sein? - Wohlfühlen einfach einkaufen
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Das Gesundheitsbewusstsein der Verbraucher ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Nicht verändert hat sich jedoch der Lebensstil der meisten Menschen in Industrienationen: zu wenig Bewegung, zu einseitige Ernährung, immer mehr Convenience-Produkte, die das Essen und die Essenszubereitung vor allem schnell und bequem machen.

Ein Widerspruch, den Industrie und Konsumenten mit funktionellen Produkten zu lösen versuchen. Getränke werden mit Vitaminzusätzen angereichert, Kaugummis mit karieshemmendem Xylith oder Margarine mit cholesterinsenkenden Omega-3-Fettsäuren. Probiotische Milchprodukte mit speziellen Milchsäurebakterien sollen die Darmflora regulieren. Polyphenole, die aus Pflanzen wie roten Früchten oder grünem Tee extrahiert werden, gelten wegen ihrer antioxidativen Wirkung als hilfreich sogar gegen Krebs. Calcium beugt Osteoporose vor, Lavendel löst Ängste und Spannungen ... Diese Liste ließe sich fast endlos verlängern.

Der Trend begann Anfang der 1990er Jahre in Japan. Auch die europäischen Hersteller sahen schnell, dass funktionelle Produkte ein riesiger Markt sind. Der ist bis heute nicht bezifferbar, da immer neue Kreationen um die Konsumenten werben, während andere auch wieder aus den Supermarktregalen verschwinden.

Ein regelrechter Wildwuchs von undurchschaubaren Gesundheitsversprechen entstand, der suggerierte, dass bestimmte Bonbons vitaminreich, Süßgebäck ein echter Fitmacher oder Joghurtdrinks immunsystemstärkend seien. Die Verwirrung aus teils irreführenden Slogans, teils aber auch zutreffender Verbraucheraufklärung wird seit 2007 von einer europäischen Health-Claims-Verordnung kontrolliert.

Eine Liste soll gut von schlecht trennen

Bis Mitte diese Jahres sollten nun nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben nach wissenschaftlichen Kriterien geprüft und in eine Gemeinschaftsliste der EU-Kommission aufgenommen werden. Was ausreichend nachgewiesen und belegt ist, kommt auf eine Positivliste, alles andere auf eine Negativliste. Diese Angaben müssen innerhalb von sechs Monaten von den Packungen und aus der Werbung verschwinden.
Zuständig für die wissenschaftliche Beratung ist dabei die 2002 gegründete Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA (European Food Safety Authority). Eine noch immer andauernde Mammutaufgabe, wie Iris Brenner, Ernährungsberaterin bei der Verbraucherzentrale in Koblenz, erläutert: "Bislang hat die EFSA 44 000 teils gleichartige Anträge von Herstellern auf Zulassung eines solchen Claims bearbeitet, doch nur rund 4700 kamen in die engere Auswahl zur Positivliste. Das heißt: Fast 90 Prozent der gesundheits- und nährwertbezogenen Angaben waren entweder nicht belegt oder irreführend." Zwar existiere viel Erfahrungswissen über positive Wirkungen von bestimmten Stoffen, aber: "Es ist etwas anderes, wenn diese Stoffe isoliert und einem Nahrungsmittel künstlich zugesetzt werden. Die Wechselwirkungen sind andere als im natürlichen Verbund." Als Beispiel nennt sie die beliebten Vitamine A, C und E, deren Aufnahme im Körper jedoch von Milch oder Fruchtsäuren blockiert wird. "Metastudien haben gezeigt, dass die Zufuhr von hochdosiertem Betacarotin, Vitamin A und Vitamin E die Sterblichkeitsrate sogar erhöhen kann." Der Konsument könne nicht beurteilen, ob etwa die aufgenommene Menge der Vitamine ausreiche oder nicht oder gar zu groß und damit gesundheitsschädigend sei. "Das marktreife Produkt muss wissenschaftlich geprüft werden, nicht nur die einzelnen Inhaltsstoffe", betont die Verbraucherschützerin.

Vergangene Woche ist die Seite www.lebensmittelklarheit.de der Verbraucherzentralen freigeschaltet worden. Auf ihr können Verbraucher Produkte melden, von denen sie sich in die Irre geleitet fühlen. Die Branche hat sich gegen diese Seite gewehrt und spricht von einem "Pranger".

Eines der Forschungsinstitute, die die von Verbraucherschützern geforderten Wirksamkeitsprüfungen vornehmen, ist die aus der Psychologischen Fakultät der Universität Trier hervorgegangene Daacro GmbH & Co. KG im Wissenschaftspark auf dem Petrisberg. Der Name Daacro steht für diagnostic assessment and clinical research organization - zu Deutsch etwa Diagnostikleistungen und klinisches Forschungsinstitut. Es gilt als weltweit einziges, das sich auf die Untersuchung sogenannter psychotroper Substanzen spezialisiert hat, die bei Stress, Angst und Depression wirksam sind.

Die Auftraggeber sind Hersteller aus aller Welt, die im Rahmen der Produktentwicklung ganz verschiedene Körperpflege-, Nahrungs-, und Nahrungsergänzungsmittel testen lassen. "Immer mehr Konzerne entdecken die Bedeutung psychotroper Substanzen", erläutert die Geschäftsführerin und Daacro-Gründerin Juliane Hellhammer. "Denn die stresserzeugende Lebensweise in modernen Industriegesellschaften ist für den Einzelnen oft kaum änderbar. Also werden Mittel gesucht, um sich zu stabilisieren."

Das Design der vom Trierer Institut entwickelten Tests entspricht dem Standard, der auch bei Arzneimitteln gilt: Es sind sogenannte randomisierte Doppelblindstudien mit Placebokontrolle (siehe Extra). Das heißt, das Präparat muss deutliche Effekte im Vergleich zu einem Placebo (wirkstoffloses Scheinpräparat) haben, auch wenn neuere Forschungen belegen, dass Placebos durchaus gesundheitliche Verbesserungen initiieren können. Zudem werden Nebenwirkungen abgefragt.

Die juristische, fachliche und soziale Korrektheit der Studien genehmigt die Ethikkommission der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz. Dem Bundesinstitut für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit werden Lebensmittelstudien angezeigt.

Daacro arbeitet mit Hilfe von zielgruppenspezifisch ausgewählten Probanden aus der Region. "Wir brauchen immer wieder Menschen aus der Umgebung von Trier, die bereit sind, im Sinne des Verbraucherschutzes mitzumachen", sagt Juliane Hellhammer. "Zurzeit suchen wir chronisch gestresste Menschen mit unterschwelligen Gesundheitsstörungen wie etwa Schlafproblemen."

Die Freiwilligen werden in einem international anerkannten wissenschaftlichen Verfahren gezielt einem Belastungstest ausgesetzt. Die Forscher messen dabei körperliche Symptome wie einen steigenden Cortisolspiegel. Daran schließt sich die grundlegende Frage an: Nehmen die Symptome bei Nutzung des zu testenden Produkts und bei einer ausreichend großen Anzahl von Probanden signifikant ab oder nicht? "Da die Konzerne in der Regel schon eine präzise Vorarbeit leisten, sind unsere Testresultate nicht selten positiv", resümiert die Trierer Wissenschaftlerin. "Aber es gibt ebenso Fälle, in denen wir dem Auftraggeber sagen müssen, dass sein designtes Produkt nicht die erhoffte Wirkung erzielt. Wir publizieren diese Studien genauso wie die positiven in wissenschaftlichen Fachzeitschriften." So finden sich die Daacro-Arbeiten in den Referenzlisten der EFSA für bestimmte gesundheitsbezogene Angaben wieder. Hellhammer betont die Unabhängigkeit ihres Instituts: "Davon hängt unsere Reputation und die Glaubwürdigkeit ab. Sie ist das wesentliche Argument, warum die Hersteller unsere Kompetenz überhaupt in Anspruch nehmen. Nur so können sie sicher sein, die EFSA-Anforderungen zu erfüllen und mit ihrer gesundheitsbezogenen Werbeaussage keinen Schiffbruch zu erleiden."

So erforschte Daacro für einen dänischen Milchverarbeiter die Wirkung von Phospholipiden (nicht wasserlösliche Moleküle, die natürlicherweise im Zentralnervensystem vorkommen) und publizierte das Ergebnis im Nutrition Research Journal. Das Ergebnis dürfte Fans von Molkereiprodukten erfreuen: Milchbasierte Phospholipide können durchaus die Gedächtnisfunktion verbessern, da sie das Stresshormon Cortisol reduzieren. Ein entspanntes, gut versorgtes Hirn arbeitet konzentrierter.

Das Schwitzen der Teenager

Ein Beispiel, wie die Arbeit des Trierer Forschungsinstituts Daacro von der Industrie aufgenommen wird, ist ein bislang im deutschsprachigen Raum nur in Österreich auf den Markt gebrachtes Deodorant für Teenager. Es wirbt mit dem Spruch "Fühl dich sicher bei allem, was du tust!" Heiner Max, selbst Wissenschaftler und Leiter der Forschungsabteilung Körperpflege bei der Beiersdorf AG in Hamburg, erläutert den Hintergrund: "Am Anfang steht das Kundenbedürfnis, das für uns die treibende Kraft für die Grundlagenforschung ist. In diesem Fall ist es die Tatsache, dass gerade Jugendliche emotionalen Stresssituationen ausgesetzt sind: Schule, erste Liebe, Gruppendruck ..." Zugleich entwickeln sich in der Pubertät die apokrinen Schweißdrüsen, das heißt, die Jungen noch mehr als die Mädchen bekommen zum ersten Mal im Leben Körpergeruch unter den Achseln.
Das emotionale Schwitzen ist ein anderes als eines, das durch hohe Temperaturen oder durch körperliche Anstrengung hervorgerufen wird, erklärt Max. Der durch Stress ausgelöste Schweiß kommt schlagartiger, konzentrierter an bestimmten Körperstellen und ist mit einem strengeren Geruch verbunden. Die geruchsbildenden Moleküle verbreiten sich extremer auf der Haut als bei anderen Arten des Schwitzens. Die Frage der Beiersdorf-Produktentwickler war daher: "Welche Substanzen sind in der Lage, gerade hier eine feuchtigkeitsreduzierende und geruchsmindernde Wirkung zu erzielen? Unsere Werbebotschaft insbesondere auch an Jungen, die oft stärker als Mädchen gestresst sind, aber es weniger zugeben, sollte folgende sein: Egal wie gestresst du bist, niemand wird es an deinem Geruch oder an Flecken unter den Achselhöhlen merken." Das Deo kann und soll also nicht den Stress, aber die Symptome mindern.

Folglich wurden 16- bis 18-jährige Testpersonen dem Trier Social Stress Test unterzogen. Es werden Stresssituationen wie Prüfungen oder Vorstellungsgespräche simuliert. Der erhöhte Cortisolspiegel beweist: Der Proband steht"unter Strom" - sogar dann, wenn er äußerlich die Ruhe selbst zu sein scheint. "Wir haben Substanzen gefunden, die messbar die Schweißproduktion und Geruchsbildung reduzieren können", sagt Max. "Aber die bleiben natürlich unser Betriebsgeheimnis." Nur im International Journal of Cosmetic Science können andere Wissenschaftler nachvollziehen, welche Stoffe in der Studie berücksichtigt wurden.

Extra: Placebokontrolle

Randomisierte Doppelblindstudien mit Placebokontrolle testen Arzneimittelwirkungen an zwei Gruppen: Eine erhält das zu testende Medikament, die andere eine Scheinarznei ohne Wirkung (placebokontrolliert). Weder die Patienten noch die Ärzte wissen, welche Testperson was bekommt (doppelblind). Die Probanden erhalten jedoch Codes, die erst nach vollständiger Datenerhebung offengelegt werden. Beide Vergleichsgruppen sind zufällig (randomisiert) zusammengestellt, sollten aber bei Kriterien wie Alter, Geschlecht oder Gesundheitszustand keine statistisch bedeutsamen Unterschiede aufweisen.

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