Relativierung sexueller Übergriffe „Woodstock ‘99“: Netflix‘ schlechtestes Werk

Rome, New York · Eine Doku über das am schlechtesten organisierte Festival aller Zeiten. Was soll da schon schiefgehen? Vieles, zeigt Netflix. Unter anderem die Relativierung von Vergewaltigungen und sexuellem Missbrauch.

Dehydrierte Besucher liegen auf dem Boden des Festivalgeländes: Zu wenig Wasser war nur eines der Probleme der Woodstock-“Neuauflage“ im Jahr 1999.

Dehydrierte Besucher liegen auf dem Boden des Festivalgeländes: Zu wenig Wasser war nur eines der Probleme der Woodstock-“Neuauflage“ im Jahr 1999.

Foto: Courtesy of Netflix

Ein Vorteil von Netflix und Co.: das einfache Zurückspulen. Streamingdienste haben zum Beispiel diese Funktion, dass wir mit einem Klick eine bestimmte Anzahl an Sekunden zurückreisen und eine Stelle noch einmal ansehen können. Am häufigsten nutze ich diesen Klick, wenn ich während eines Filmes dann doch mal nebenbei eine WhatsApp beantwortet habe und unaufmerksam war. Oder dann, wenn ich etwas nicht glauben kann.

Die neue Netflix-Doku Woodstock ’99. Folge zwei von drei. Kurz vor dem Ende. Da ist er, dieser Moment. Zurückklicken. Haben die gerade wirklich gesagt, dass dort ein Mädchen – sie war vielleicht 15 oder 16 – bewusstlos in einem Van lag und vergewaltigt wurde? Zweiter Blick. Ja, haben sie. Auch, wenn es natürlich abartig ist, was dort passierte, schockierte mich das wenig. Ich kenne mich etwas mit Musikhistorie aus und wusste, dass bei der „Neuauflage“ (nie waren Anführungszeichen wichtiger) des 1969er-Kultfestivals massenweise Frauen belästigt, begrapscht und misshandelt wurden. Auch die Geschichte des Mädchens im Van war mir nicht neu. Was mich schockierte: Haben die Macher dieser dreiteiligen Doku-Serie gerade innerhalb von 1:31 Minuten das widerlichste abgearbeitet, was dort passierte – und es unkommentiert stehen gelassen?

„Woodstock 99“ auf Netflix: Wie der Veranstalter Vergewaltigungen relativiert

Ja, haben sie. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Doku: Es war alles sehr schlimm, was 1999 in Rome, New York, passierte. Aber Vandalismus und Eitelkeiten von Musikern scheinen bedeutsamer zu sein, als die körperliche Unversehrtheit junger Frauen. Vor allem einer der Organisatoren, John Scher, gibt sich jede Mühe, das zu unterstreichen. Unter anderem dadurch, dass er das Festival mit einer Stadt vergleicht. Immerhin seien 250.000 Besucher dort gewesen. In einer Stadt dieser Größe fänden auch Vergewaltigungen statt. Mindestens so viele, wenn nicht noch mehr. Das sei nichts gewesen, was für viel Aufsehen gesorgt habe. „Außer natürlich für die Frauen, denen es passiert ist.“

Beim Auftritt von Kid Rock wird Müll auf die Bühne geworfen. Auch auf dem Rest des Geländes lag dieser verteilt – in Massen.

Beim Auftritt von Kid Rock wird Müll auf die Bühne geworfen. Auch auf dem Rest des Geländes lag dieser verteilt – in Massen.

Foto: Courtesy of Netflix

Eben jenen Frauen gibt Scher die Schuld für dafür, unsittlich berührt worden zu sein. Immerhin hätten viele Frauen ihr Oberteil ausgezogen – freiwillig. „Dann gerät man in einen Moshpit und surft in der Menge. Könnte jemand ihre Brüste angefasst haben? Ja, ich bin sicher, das haben sie“, sagt Scher. Um die Frage nachzuschieben: „Was hätte ich dagegen tun können?“

Okay, John Scher schert sich nicht sonderlich um das Wohl dieser Frauen. Das zeigt sich auch auf den Pressekonferenzen, auf denen er stets von einem gelungenen Festival sprach und davon, dass es lediglich einige Chaoten gewesen seien, die das Gelände verwüsteten. Das Mindeste wäre, diese Aussagen einzuordnen.

Regisseur der Doku-Reihe ist Jamie Crawford, der laut seiner eigenen Website das vergangene Jahr mit der Produktion der Netflix-Serie beschäftigt war. Dass ihm innerhalb dieser Zeit nicht der Gedanke gekommen zu sein scheint, dass man all das nicht unkommentiert wegarbeiten könne, spricht nicht für ihn. Ebenso wenig wie es für Netflix spricht, dass in Anmoderation und Trailer kaum ein Wort über sexuelle Übergriffe verloren wurde. Stattdessen ist dort – abgesehen von einigen Sätzen im Trailer, bezogen auf das Verhalten der Männer – „nur“ von Bränden, Aufständen und Zerstörungswut die Rede.

„Man konnte nicht länger als fünf Minuten verweilen, ohne zu sehen, wie eine Frau von einem zufälligen Fremden befummelt wurde.“

Dass es eine große Zahl von sexuellen Übergriffen gegeben hat, zeigen mehrere Augenzeugenberichte. So etwa der von Ethan Fixell, der im Kerrang-Magazin im August berichtete: „Tragischerweise gab es nach dem Festival auch Vergewaltigungsvorwürfe. Und obwohl ich persönlich nicht Zeuge von etwas so Schwerwiegendem wie diesen Anschuldigungen wurde, finde ich sie angesichts des Tenors der Veranstaltung am Ende des Wochenendes nicht schwer zu glauben. Man konnte nicht länger als fünf Minuten verweilen, ohne zu sehen, wie eine Frau von einem zufälligen Fremden befummelt wurde.“

Netflix-Doku „Woodstock 99“: Schlechtestes Werk des Streaming-Dienstes
Foto: Courtesy of Netflix

Auch MTV berichtete kurz nach dem Festival davon, dass mindestens zwei Frauen in Moshpits vergewaltigt worden seien. Insgesamt spricht der Rolling Stone von „fünf aktenkundigen Vergewaltigungen, zahllosen sexuellen Übergriffe und Schlägereien, drei (Hitze-)Toten, 253 Verletzten und 5162 Behandlungen auf dem Gelände“.

Immerhin: Am Ende der Doku-Reihe werden die sexuellen Übergriffe noch einmal thematisiert. Vor allem durch eine Reporterin, die 1999 vor Ort war: „Bei der Stimmung der Männer dort überrascht mich das nicht“, erklärt sie und verweist sehr eindrücklich und richtig auf das damalige Anspruchsdenken der Männer, dass Frauen sich dem hingeben müssten. Grundsätzlich gibt es im Laufe der Doku immer wieder auch solche Aussagen, die richtig und korrekt einordnen.

Das Problem: Diesen folgen oftmals Relativierungen. Wie diese: Der legendäre Festivalorganisator Michael Lang spricht in einer der letzten Sequenzen zwar davon, dass es schrecklich sei, was diesen Frauen passiert sei. Man trage für all das die Verantwortung. Den Satz beendet er mit einem „aber...“. Aber es sei „in den Zelten im Verborgenen“ passiert. Das klingt – wie schon bei seinem Organisatorkollegen Scher – nach: „Was hätten wir denn tun sollen?“ Jemand (Anmerkung: laut MTV zwei Augenzeugen, darunter ein Seelsorger, der das Opfer betreute) habe gesagt, es sei im Moshpit passiert. „Unvorstellbar“, sagt Lang, der im Frühjahr dieses Jahres starb.

Unvorstellbar, 2022 eine solch undifferenzierte Dokumentation zu zeigen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort