"Mein Leben ist absolut lebenswert"

Der Contergan-Skandal liegt weit zurück, vor 46 Jahren nahm der Hersteller Grünenthal das Medikament aus dem Handel. Heute mehren sich die Folgeschäden bei den Betroffenen. Und der Wirkstoff Thalidomid ist immer noch auf dem Markt.

 Klaus-Peter Thiel aus Saarburg ist ein Contergan- Opfer. Der Verwaltungsangestellte ist Vielfachgeschädigter. Foto: Friedemann Vetter

Klaus-Peter Thiel aus Saarburg ist ein Contergan- Opfer. Der Verwaltungsangestellte ist Vielfachgeschädigter. Foto: Friedemann Vetter

Trier. "Alles dran!" -Mit diesem erleichterten Ausruf teilen junge Eltern ihren Lieben mit, dass sie ein körperlich gesundes Kind bekommen haben. Als Klaus-Peter Thiel aus Saarburg vor 47 Jahren geboren wurde, war nicht alles dran. Thiel ist, im Fachjargon, ein Vierfachgeschädigter: Beide Arme, beide Beine sind von den Fehlbildungen betroffen. Er sitzt im Rollstuhl.Wir sollen objektiv berichten, sagt Thiel. "Keine rührselige Geschichte." Schließlich sei er flexibel, mobil und berufstätig: Thiel arbeitet an der Universität Trier im BAföG-Amt. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. "Die zwei Größeren sind schon aus dem Haus", kurz: "Alles ganz normal."Nein, sein Leben soll nicht über Contergan definiert werden. Dazu sei es viel zu gewöhnlich. Und schon sind wir in der Diskussion über pränatale Diagnostik: Wer weiß, wie manche Eltern heute entscheiden würden, wenn sie bereits früh von ähnlichen Beeinträchtigungen bei ihrem Kind wüssten. Der Gedanke, "dem armen Kind" ein solches Leben nicht antun zu wollen - abgesehen von noch deutlicheren Selektions-Visionen - "das geht nicht", sagt Thiel.Das gilt auch für andere Contergan-Geschädigte. Wie Sibylle Richter, die Vorsitzende des Landes-Hilfswerks Contergan-Geschädigter aus Koblenz: "Mein Leben ist absolut lebenswert", sagt die 46-jährige verheiratete Mutter einer Tochter. Ihre Arme sind verkürzt, an jeder Hand hat sie nur drei Finger. Und dann liefert sie ein wunderschönes Beispiel für gelungene Integration: Als sie eines Tages ihrer Arbeitskollegin in der Sparkasse, "die mir seit Jahren gegenübersaß", von ihrer anstehenden Heirat erzählte, sagte diese: "Ich kann dir meine Hochzeitshandschuhe leihen." Sie hatte völlig vergessen, dass Sibylle Richter sie gar nicht würde anziehen können. "Das ist der Beweis, dass man nicht als Behinderter gesehen wird, sondern als Mensch.""Man fühlt sich nutzlos"

Dennoch: Bei allen zwischen 1959 und etwa 1962 geborenen Contergan-Geschädigten machen sich mittlerweile Folgeprobleme bemerkbar. Denn die Behinderungen resultierten in unnatürlichen Körperhaltungen und Bewegungen. Diese belasten Gelenke, Hüften, Wirbelsäule. Bei Klaus-Peter Thiel zeigen sich Verschleißerscheinungen vor allem an Fingern und Handgelenken, am Rücken und den Schultern. Thiel kann weiter arbeiten. Erika Naumer-Klein konnte das nicht. "Ich bin seit acht Jahren in Rente", sagt sie. "Das ist nicht so einfach. Finanziell - und auch, weil man sich dann eher etwas nutzlos fühlt." Die Gefahr der Isolation, die vielen zu schaffen macht, besteht bei ihr zum Glück nicht: Sie habe einen starken Freundeskreis, berichtet sie. Und sie ist Vorsitzende der zweiten Interessenvertretung Contergan-Geschädigter in Rheinland-Pfalz. Da braucht man Kraft und Energie -"auch, um andere mitreißen zu können". Das gelinge leider nicht immer. Manche zögen sich zurück, weil sie keine Famile haben und deshalb "nach gängigen Lebensvorstellungen nicht so erfolgreich sind". Dabei seien die meisten gut ausgebildet, sozial und beruflich integriert: "Ich denke, alle von uns können stolz sein auf das, was sie erreicht haben."Auch wenn es jetzt wieder schwerer wird - denn die immer stärker auftretenden Probleme werden nicht vom Gesundheitssystem aufgefangen. Erst recht nicht seit der Reform. Die Folge: Viele müssen draufzahlen, wenn sie Behandlungen benötigen. "Und es wird immer schwieriger, Pflegeleistungen zu beantragen", sagt Klaus-Peter Thiel.Aber es soll ja kein Rührstück werden, hat Klaus-Peter Thiel gesagt. Viel wichtiger ist ihm deshalb eine Warnung: "Es geht mir darum, welche Gefahren jetzt wieder drohen", sagt er. Denn Thalidomid, der Contergan-Wirkstoff, wird nach wie vor eingesetzt - zur Behandlung von Krebs-, Lepra- oder Aidskranken. In anderen Ländern, zum Beispiel Brasilien, werden bereits wieder Kinder mit den typischen Fehlbildungen geboren. "Und dort ist die Versorgung nicht so gut wie hier", sagt Sibylle Richter. Das Thema werde in ihrem Verband kontrovers diskutiert, berichtet sie. "Aber ich sage: Ich würde einem Krebspatienten nicht diesen letzten Strohhalm nehmen." Zwei Verbände, gemeinsame Ziele In Rheinland-Pfalz vertreten zwei Landesverbände in enger Kooperation die Interessen von Contergangeschädigten und anderer Menschen mit angeborenen Fehlbildungen: Der LV Rheinland-Pfalz vertritt 90 Mitglieder, davon 50 Contergan-Geschädigte, der LV Pfalz-Saar hat 92 Mitglieder, 47 davon mit Schädigungen in Folge der Contergan-Einnahme. Den Verbänden gehören auch junge Familien mit Kindern an, die mit einer angeborenen Missbildung (Dysmelie) zur Welt kamen. Die Verbände unterstützen Menschen, die auf Hilfe anderer angewiesen sind, bieten Erfahrungsaustausch, vermitteln ärztliche Betreuung und Versorgung. Darüber hinaus setzen sie sich ein für die soziale Rehabilitation der Geschädigten durch Gleichstellung in Ausbildung, Beruf und Gesellschaft und helfen bei der Sicherung ihrer Altersversorgung. Kontakt: Hilfswerk für Contergangeschädigte, Landesverband Rheinland-Pfalz, Vorsitzende: Sibylle Richter, In der Laach 52 D, 56072 Koblenz, Telefon 0261/401612, E-Mail: contergan-lv-rlp@freenet.de Landesverband für Contergangeschädigte Pfalz-Saar/Hilfswerk für vorgeburtlich Geschädigte, Vorsitzende: Erika Naumer-Klein, Carl-Friedrich-Gies-Straße 7, 67434 Neustadt, Telefon 06321/35961, E-Mail: naumer-klein@web.de (fpl)Hohe Hürden für neue Medikamente "Gravierende Auswirkungen" habe der Contergan-Skandal auf die Arznei-Gesetzgebung gehabt, sagt Ulrich Hagemann, Abteilungsleiter für Arzneimittelsicherheit beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn. Heute gebe es hohe Hürden für die Zulassung neuer Wirkstoffe. Anders war das vor 50 Jahren: Als Contergan auf den Markt kam (sein Wirkstoff Thalidomid wurde ursprünglich als Mittel gegen Allergien entwickelt), gab es Hagemann zufolge so gut wie kein Sicherheitsnetz. "Es gab noch nicht einmal ein Arzneimittelgesetz." Das folgte erst 1961, beeinflusst auch von den Beschlüssen des Landgerichts Aachen, das über den Contergan-Fall zu entscheiden hatte. Das Gericht gab zentrale Grundsätze vor, die bis heute gültig sind. "Die Erprobung am Menschen ist streng reglementiert", sagt Hagemann. Aber auch nach der Zulassung wird jedes Präparat weiter überwacht. "Anfang der 60er Jahre wurde das ,Spontanerfassungssystem' entwickelt", erklärt Hagemann. Ärzte, die einen Verdacht auf Nebenwirkungen haben, können das jederzeit an das BfArM melden. "Jährlich gehen 16 000 bis 17 000 Berichte ein." Was nichts daran ändert, dass Talidomid im Handel bleibt: Er wird unter anderem bei Lepra- oder Aidserkrankungen eingesetzt. Vor allem in Ländern mit weniger strengen Arznei-Gesetzen. (fpl/dpa)

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