Literatur Was wäre, wenn …?

Jim Morrison lebt. Der Sänger der „Doors“ ist nicht am 3. Juli 1971 in Paris gestorben – ohnehin unter sehr mysteriösen Umständen, wenn man den polizeilichen Ermittlungsakten glauben mag. Er ist also auch nicht auf dem Friedhof „Père Lachaise“ begraben – neben Edith Piaf, Frédéric Chopin, Oscar Wilde oder Sarah Bernhardt.

 Ich und der Andere

Ich und der Andere

Foto: Braumüller

Er gehört mithin auch nicht zum Club 27, dem Jimi Hendrix, Janis Joplin, Kurt Cobain oder Amy Winehouse angehören – alle gestorben im Alter von 27 Jahren.

Ghost City, irgendein verlassener Ort irgendwo in Amerika – dort lebt Morrison, inzwischen kahlköpfig, zusammen mit einem anderen Mann. Die beiden sind die einzigen Patienten einer aufgegebenen Heilanstalt, betreut von einer einzigen Pflegerin, die im Sterben liegt. Dem zweiten Insassen, einem ehemaligen Lehrer, verdankt Morrison einen seiner größten Erfolge – den Song „Light my Fire“.

Alles krause Gedanken von irgendwelchen Verschwörungstheoretikern, die sich nicht mit dem frühen Ableben ihres Idols abfinden wollen? Jenen Fans bzw. Fanatikern, für die auch Elvis Presley und John Lennon irgendwo auf dieser Scheibe namens Erde weiterleben? Ganz und gar nicht. Der Österreicher Jürgen Kaizik, Schriftsteller, Regisseur und Filmemacher, ausgebildet in Wien und Saarbrücken, hat den Sänger zu neuem Leben erweckt – bzw. ihn gar nicht erst sterben lassen. Er spinnt sich eine abenteuerliche Geschichte zurecht, der er den Titel „Ich und der andere“ gibt. Der Andere, das ist eben jener unbekannte Lehrer, dem Ich, also Morrison, in einem Musikschuppen in Los Angeles mit dem bezeichnenden Namen „London Fog“ begegnet (dieses Lokal gab‘s wirklich) bin. Die Notizen von „Hölderlin“, so nennt Morrison den Mann, dessen wahrer Name im ganzen Buch nicht einmal erwähnt wird (und der eine fiktive Gestalt ist), inspirieren den hoffnungsvollen Sänger zu seinem erfolgreichsten Lied, eben jenes „Light my Fire“, 1967 erstmals präsentiert. Danach bleiben ihm noch vier Jahre – im wirklichen Leben.

Ab hier geht Kaizik recht erfinderisch mit der Realität um. Spurenelemente aus der Wirklichkeit wie Morrisons problematisches Verhältnis zu seinem Vater, einem im Vietnam-Krieg aktiven Marine-Offizier, einem langjährigen, bis zu Morrisons Tod reichenden Liebes- und Hassverhältnis mit der Kunststudentin Pam Courson, namentlich genannte Bandmitglieder und Morrisons erratischem Verhalten, das zu Tumulten bei den „Doors“-Auftritten führte, verwässern in Kaiziks Roman mit erfundenen Episoden aus dem zweiten beziehungsweise Weiterleben des Künstlers, ein Mäandern zwischen Wahn und fantasierter Wirklichkeit. Es ist eine Spurensuche nach den Wurzeln der Kreativität eines rebellischen, außergewöhnlichen, nicht gesellschaftskonformen Menschen, wie sie zu hunderttausenden in den 1960er Jahren die Nachkriegsgesellschaft aufmischten, wenn auch nur ein verschwindend geringer Anteil davon die Berühmtheit eines Jim Morrison erreichte. Immerhin bietet Kaizik eine Menge Stoff, um die Texte des Sängers in einem wenn schon nicht neuen, so doch zumindest anderen Licht erscheinen zu lassen und damit Raum für neue Interpretationen zu schaffen. Ob die Inspirationsquellen wirklich so geflossen sind, wie der Autor es darstellt, kann und darf bezweifelt werden. Immerhin – möglich wäre es.

„Ich und der Andere“ ist eine Gedankenspiel à la „Was wäre, wenn …?“ mit einem allerdings ernüchternden Ende, das im Tod die bessere Alternative sieht: „Stellt euch doch nur einmal so ein endloses Leben vor“, doziert die sterbende Pflegerin in der Heilanstalt. „Ewig mit euren mickrigen Banalitäten leben müssen. Ewig mit diesen Schwächen und Blödheiten. Das wäre wahrhaft zu viel des Elends.“ Da mag man nicht widersprechen.
Rainer Nolden

Jürgen Kaizik, Ich und der Andere, Braumüller, 255 Seiten, 22 Euro.

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