Aufgeschlagen Gar alles – aber dessen hätte es nicht bedurft

Auch mit 90 Jahren hat es Martin Walser nicht aufgegeben. Bereits wenige Tage nach seinem 91. Geburtstag erschien nach „Statt etwas“ 2017 mit „Gar alles“ ein neues Werk des großen deutschen Schriftstellers. Ganz nach der Devise seines Protagonisten Justus Mall: „Sagen wollte ich nur, dass ich weiterschreiben muss.“

 Buchcover Gar alles

Buchcover Gar alles

Foto: TV/Verleger

Das neue Buch firmiert wie schon sein Vorgänger als Roman. Doch handelt es sich erneut eher um eine locker zusammengefügte Ansammlung von Briefen, E-Mails, knappen Erzählungen und Aphorismen (darunter auch „Ich bin öfter gestürzt als aufgestanden“, was ich 2010 als Überschrift für einen Vorbericht über Walsers Lesung in Wittlich aus dem dritten Band seiner Tagebücher wählte, J.L). Justus Mall, heute laut Visitenkarte Philosoph – Spezialgebiet: die Dialektik von Wahrheit und Lüge –, hieß zuvor anders und war von Beruf Jurist, Oberregierungsrat im Justizministerium.

Er adressiert seine Selbstgespräche an eine unbekannte Geliebte, die es höchstwahrscheinlich gar nicht gibt. Darin berichtet er: „Ich zwischen zweien. Die Eine seit langem. Die Andere noch nicht so lange.“ Ehefrau Gerda nennt er ein „Sternbild“. Ihn und sie verbindet „eine bejahrte Innigkeit“. „Die andere Liebe (die Geliebte Silke) ist ein Blütenschwall, ein Hochgesang.“

Diese Situation erweist sich laut Erzähler Justus Mall für alle drei als äußerst schwierig, am schwierigsten aber natürlich für ihn selbst. Dann wird er seines Erachtens zu Unrecht, doch wohl eher zu Recht, einem öffentlichen Grapscher-Vorwurf ausgesetzt.

Die MeToo-Debatte kommt ins Spiel, Mall erweist sich als Trump-Sympathisant sein Grapsch-Fall wird wegen Alzheimers eingestellt und Mall in den Ruhestand versetzt.

Doch das ist – leider – bei weitem nicht „Gar alles“: Der Ich-Erzähler begegnet „einem seine Brüste zelebrierenden Mädchen“, sieht eine junge Frau und schwadroniert länger über deren „steile Brüste“. Und so fort: Mall spricht von „Schenkel-Emanzipation“ und lässt in seinem Blog „Titten wippen“. Eine wegen eines Gartenstreits gegen ihn prozessierende Anwältin bezeichnet er ständig als „die trockene Scheide“. Das Fass scheint sozusagen überzulaufen. Schon in meinem Artikel zu Martin Walsers 90. Geburtstag subsumierte ich seine  Werke seit dem Roman „Angstblüte“ aus dem Jahr 2006 bis hin zum 2017 erschienenen Werk „Statt etwas“ als „Altherrenerotik“. Diese Bezeichnung erweist sich bei dem aktuellen Werk noch wesentlich gerechtfertigter.

Bisherige Kritiken zu „Gar alles“ sprechen von „anarchischer Altmänner-Erotik“ (Deutschlandfunk Kultur) oder auch von „unendliche(r) Peinlichkeit“ (Die Zeit). Diesen Bewertungen versucht Walser den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er bereits zuvor im Werk auf ihre möglichen – und meines Erachtens vollauf berechtigten – Vorwürfe eingeht: Verrissen wird Justus Mall grundsätzlich von einem Kritiker namens Dolf Paul Alt, der angeblich mit DPA (! = Deutsche Presse-Agentur) kürzelt: „Von Zürich bis Hamburg kein Blatt, das ihn nicht als Kritiker beschäftigt.“ Ein kleiner Gag am Rande! Zu „Gar alles“ lässt sich zusammenfassend nur sagen: „Si tacuisses, philosophus mansisses“ („Hättest du geschwiegen, wärest du ein Philosoph geblieben“). Die letzten belletristischen Werke Walsers waren unnötig, sie zerstören nur den Ruf des großen deutschen Schriftstellers, der vor allem als Sprachvirtuose gilt.

Jörg Lehn

Martin Walser, Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Roman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2018, gebunden, 107 Seiten, 18 Euro.

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