Literatur Ein Narr in der Hölle auf Erden

Wenn der Gaukler Tyll mit seiner Geliebten ins Dorf kommt,  vergessen die Leute die prallen Euter der Kühe und haben nur noch Augen für die Darbietungen der Künstler. Tanz, Theater, Akrobatik und spöttisch besungene Nachrichten nehmen alle begierig auf und lassen bereitwillig die Münzen springen.  Wenn sie merken, dass auch sie veräppelt werden, ist der pfiffige Seiltänzer samt Esel längst abgereist.

Redakteurin Anne Heucher hat sich "Tyll" von Daniel Kehlmann durchgelesen.
Foto: TV/Verlag Rowohlt

Daniel Kehlmann hat Till Eulenspiegel neu erfunden, den mittelalterlichen Schelm, der sich mit Tricks und Spitzfindigkeiten durchs Leben schummelt und bis heute einen festen Platz in den Schulbüchern hat.  Kehlmann hat seine Figur in die Zeit des 30-jährigen Krieges verpflanzt – in eine Welt so fürchterlicher Grausamkeit und Not, dass der Schalk auch böse und sarkastische Züge trägt. Als Kind wird der Müllerssohn von zwei vorbeiziehenden Jesuiten über seinen Vater ausgefragt, einen Naturbeobachter und Heiler, der dadurch in den Fokus der Inquisition gerät. Tyll muss mitansehen, wie man den Müller zum Hexer macht  und auf den Scheiterhaufen bringt. Der Junge flieht – und nimmt Nele mit, die Bäckerstochter, die wie er ein schutzloses Leben in Freiheit dem vorbestimmten Schicksal in dörflicher Enge vorzieht. Die beiden lernen als fahrendes Volk Artistik, Gesang und das Überleben trotz Kälte, Hunger und  Gewalt.

In den Wirren der Zeit, in der es nur vordergründig um Religionen ging, schlüpft der Gaukler in viele Rollen, ist Hofnarr des Kaisers in Wien oder Begleiter des protestantischen Böhmenkönigs, Rekrut im belagerten Brünn oder Augenzeuge der letzten Schlacht bei Zusmarshausen.  Tyll,  „der nichts glaubt und niemandem gehorcht“, hält den großen wie den kleinen Leuten zynisch den Spiegel vor.  Daraus entwickelte Kehlmann einen großartigen Ritt durch das Europa vor 400 Jahren, einen Roman, der in einer schnörkellosen, teilweise etwas altertümelnden Sprache die politischen Konflikte darstellt, vor allem aber die geistige Welt voller Aberglauben und zutiefst verlogener Frömmigkeit wieder auferstehen lässt. Die Mischung aus historischen Fakten und Fiktion erschafft ein lehrreiches, atemberaubendes Panorama der Epoche.    

Daniel Kehlmann, Tyll, Roman, Rowohlt 2017,  480 Seiten, 22,95 Euro.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort