Spannend, komplex, berührend: Weit mehr als ein guter Krimi

Dass der norwegische Autor Jo Nesbø es versteht, bis ins Detail durchdachte, spannende und immer auch emotional berührende Plots zu spinnen, hat er mit seiner legendären zehnteiligen Harry-Hole-Reihe längst unter Beweis gestellt.

Der Kriminalroman "Der Sohn" ist ein Nesbø-Solitär. Sein unnahbarer Held ist Sonny Lofthus, ein junger Insasse im Osloer Hochsicherheitsgefängnis Staten. Ein verlorener Sohn, der nach dem Selbstmord seines Vaters, eines Polizisten, und dessen Geständnis, korrupt gewesen zu sein, zum Junkie wird. Bis er erfährt, dass alles ganz anders war. Sonny flieht. Er plant. Er mordet.

Nesbøs Roman ist der Versuch, die komplexen Gefühle, die einen Menschen dazu bringen, andere zu töten, zu entflechten und offenzulegen: Trauer, Liebe, Wut, Hass, Rachegelüste, der Wunsch nach Gerechtigkeit.

Immer wieder hält der Autor inne, unterbricht den Rachefeldzug und die parallelen Ermittlungen des Kommissars Simon Kefas, um sich den Figuren zu widmen. Ihren Lebenswegen, ihren Schicksalen, ihren Motiven. Zu Sonny hält er Distanz. Ihm nähert man sich nur über die anderen Figuren. Über die Insassen, die zu ihm kommen wie zu einem Heiligen. Die zu ihm kommen, dem in sich gekehrten Jungen, um ihre Sünden zu beichten. Über Kefas, der ihn jagt - und versucht, zu verstehen, was ihn antreibt. Über den Busfahrer und den Handy-Verkäufer. Und über die junge Sozialarbeiterin Martha, die sich in Sonny verliebt. Und der er sich ein wenig öffnet. Dabei sind diese Charakterstudien immer so wohl dosiert, dass der Spannungsbogen nie abreißt.

Sünde, Verrat, Hass, Erlösung. Das klingt nach zu viel für einen Roman. Nesbø aber versteht es, in seinem ruhigen, unaufgeregten Schreibstil, nie zu verklären, sondern erschreckend nüchtern Zweifel am Schwarz und Weiß von Gut und Böse zu säen.

Ariane Arndt-Jakobs

Jo Nesbø: Der Sohn; 528 Seiten; Ullstein Verlag; 22,99 Euro

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