Dauerspannung statt Spannungsbogen

Ein durchschnittlicher Krimi funktioniert so: Leiche finden, Spuren suchen, Täter suchen, Täter finden. Fertig. Ein Krimi von Jussi Adler-Olsen funktioniert anders. Das beweist er ein weiteres Mal in "Verachtung".

Bei Adler-Olsen geht es nicht nur darum, wer wen umgebracht hat. Es gibt mehrere Zeitebenen, parallel laufende Geschichten, die sich auch über mehrere Bücher entwickeln und Figuren mit vielen Ecken und Kanten.
Dazu sind seine Krimis gerne mal auf 500 Seiten permanent spannend - und auf den letzten 100 Seiten so spannend, dass man sie nicht mehr aus der Hand legen kann.

Die Erwartungen an "Verachtung", den vierten Fall für Carl Mørck, Leiter des Sonderdezernats Q der Kopenhagener Kriminalpolizei, waren also entsprechend hoch. Ein alter Fall aus dem Jahr 1987 landet auf Mørcks Schreibtisch. Mehrere Menschen sind damals fast zeitgleich verschwunden. Gemeinsam mit seinen beiden Assistenten Rose und Assad macht sich der störrische Kommissar auf die Suche nach den Zusammenhängen. Seine Recherchen führen ihn auch auf die Spur eines fanatischen Arztes, der mit Zwangssterilisationen die Leben von Hunderten von Mädchen zerstört hat - alles im Namen einer großen Ideologie, nach der nur reine, gute Dänen Kinder bekommen sollen.

"Verachtung" startet gemächlicher als die Vorgängerromane. Locker, oft flapsig, steigt Adler-Olsen in den Fall ein. Nach und nach verdichtet er die Handlungsstränge, verknüpft die Zeitebenen, spinnt Erzählstränge aus den anderen Romanen weiter. Es ist eine große Stärke des Autors, den Leser in der Illusion zu wiegen, er wisse bereits alles - und ihn dann mit etwas zu überraschen, das er niemals erwartet hätte. Der Roman ist zudem ein Lehrstück der jüngeren dänischen und europäischen Geschichte. Besserungsanstalten für Mädchen hat es in Dänemark tatsächlich gegeben. Offen rechtsextreme oder rassistische Parteien tummeln sich in ganz Europa. Mit "Verachtung" hat Jussi Adler-Olsen erneut einen Krimi geschrieben, der lange nachwirkt und dem es gelingt, den großen gesellschaftlichen Bogen zu schlagen.

Maren Meißner

Jussi Adler-Olsen: Verachtung. dtv, 2012, 544 Seiten, 19,90 Euro.

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