Der Gegenentwurf

Der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung erreicht die Politik nicht erst seit dem Streit um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 oder seit den Wahlerfolgen der Piraten in Berlin und im Saarland. Aber er scheint ernster genommen zu werden, nachdem vornehmlich via Internet Inter essensgruppen munterer geworden und die Piraten auf Anhieb in zwei Länderparlamente eingezogen sind.

Diese Woche stellte die Bundesregierung nun einen 80 Seiten starken Leitfaden vor, wie Bürger künftig besser in die Planung von Großprojekten eingebunden werden können. Das ist ein Anfang, trifft aber nicht den Kern des Problems, nämlich das schwindende Vertrauen in die Aufrichtigkeit der politischen Klasse auch jenseits augenfälliger Strukturmaßnahmen. Politische Entscheidungen sind meist schon getroffen, mehrheitsfähige Bündnisse geschmiedet, bevor sich der Vorhang für das öffentliche Schaulaufen hebt. Der Parlamentarismus verkommt immer mehr zu reinem Ritual. In diesem Klima konnten die Piraten wunderbar heranwachsen, verkörpern sie doch das in eine Partei gegossene Unbehagen über Kommunikationsmechanismen und Strukturen, die vor allem Jüngere nicht mehr verstehen und erst recht nicht nachahmen wollen. Es ist schon verrückt: Trotz geringer inhaltlicher Kompetenz, ohne schlüssiges Konzept oder bekannte Persönlichkeiten schwimmen die Piraten gerade auf einer Erfolgswelle, die von Umfrage zu Umfrage weiter wächst. Aber eine Botschaft vermitteln sie mit Nachdruck: Wir akzeptieren euren Politikstil nicht mehr. Nicht die taktischen Spielchen, nicht die Verklausulierungen, nicht die gegenseitigen Hinterfotzigkeiten, die es in Politikerkreisen zu besonderer Ausprägung gebracht haben. Die Forderung nach dem gläsernen Staat ist nur die Antwort, der extreme Gegenentwurf zu jener geschlossenen Welt, die auch Vertreter anderer Parteien als Intrigantenstadl schildern. Das digitale Zeitalter hat den Zugang zu Wissen verändert und neue Kommunikationsstrukturen hervorgebracht, mit denen viele Etablierte - nicht nur im politischen Milieu - noch fremdeln. Der Piraten-Traum von der elektronisch gesteuerten Basisdemokratie beschreibt ein Politikverständnis, in dem es nicht mehr um Bünde und Bindungen, um Traditionen, Grundüberzeugungen, Verbindlichkeit und Programmatik geht. Er zeichnet ein Modell, das keine klaren Linien braucht, weil es sich an singulären Politikfeldern entlang hangelt und von Fall zu Fall Mehrheiten generiert. Die Frage ist nur, ob totale Transparenz nicht geradewegs hineinführt in den totalen Orientierungsverlust. Offen ist auch, ob durch die viel zitierte "Schwarmintelligenz" komplexe Probleme besser in den Griff zu bekommen sind als in den herkömmlichen Strukturen. Dennoch sind mir Gestaltungswille und Experimente auf demokratischer Basis allemal lieber als jene bequeme Opferlitanei, wonach "die da oben" ja sowieso machen, was sie wollen. Isabell Funk, Chefredakteurin

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