Die 96 Prozent und "das Volk"

Erinnern Sie sich noch? Bis vor wenigen Wochen war Griechenland das ganz, ganz große Thema in Europa. Es verging kein Tag, an dem nicht zäh gerungen wurde um die Frage, ob die Griechen im Euro bleiben sollten oder nicht, ob weitere Rettungspakete hier und harte Sparauflagen da das Land wieder stabilisieren könnten.

Auch wenn diese Krise trotz der abermals gewährten Milliardenhilfen längst nicht ausgestanden ist, erscheint uns das Problem plötzlich so klein. Klein vor dem Hintergrund des Flüchtlingsdramas, dessen Ausmaß sich in dieser Woche in einem einzigen Bild verdichtete: dem des toten syrischen Jungen - wie Treibholz angespült an der türkischen Küste. Und Europa streitet.

Es gibt zwar Anzeichen dafür, dass eine überfällige, auch von Deutschland geforderte Quotenregelung zur Aufnahme von Flüchtlingen kommen wird. Doch noch ist der Widerstand vor allem aus Osteuropa nicht gebrochen. Jetzt rächt sich auch der Langmut mit Ungarn, dessen Ministerpräsident Viktor Orbán immer wieder gerne ausreizt, wie weit er es innerhalb der Union mit der Beschneidung demokratischer Grundregeln treiben darf. Pressefreiheit und Justiz sind bereits eingeschränkt, dann liebäugelte er mal kurz mit der Todesstrafe, zog seinen Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch, denkt daran, ein weiteres Bollwerk an der Grenze zu Kroatien zu errichten und macht zu guter Letzt Deutschland für die Flüchtlingskrise verantwortlich. Aber Deutschland schläft nicht mehr.

Auch wenn es lange, zu lange gedauert hat, entwickelt die Flüchtlingspolitik hierzulande eine neue Dynamik. Bürokratische Hürden werden abgebaut, es wird mehr Personal eingestellt, es fließt mehr Geld in die Bewältigung einer humanitären Aufgabe, an der die Gesellschaft wachsen wird. Binnen kurzem ist Flexibilität möglich, wo deutsche Gründlichkeit bremste. Das ist erst ein Anfang, aber ein richtiger Anfang. Und es ist eine klare Botschaft: Nicht Schutzsuchende, die vor Krieg und Massakern fliehen, schaden diesem Land, sondern Brandstifter und Brunnenvergifter - auch wirtschaftlich.

In Sachsen beispielsweise berichten Politiker von einer wachsenden Zahl kritischer Fragen aus Investorenkreisen. Aber wer Flüchtlinge als Vieh und Dreck beschimpft, eine Bombendrohung gegen die SPD-Zentrale richtet, Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Fotze und Vaterlandsverräterin nennt oder sich klammheimlich über solche kriminellen Entgleisungen freut, hat sich ebenso wie fundamentalistische Hassprediger aus der Zivilisation verabschiedet. Sie hetzen und pöbeln deshalb so laut, so hemmungslos unflätig und verzweifelt, weil ihnen langsam dämmert, dass Politik und Gesellschaft entschlossener und wehrhafter geworden sind. Und weil ,,das Volk" ein anderes ist. 96 Prozent, so die jüngste Umfrage, sagen Ja zur Flüchtlingshilfe.