Diskurs heute: Keine Ahnung, aber so ein Gefühl

Ach, möge es doch allen eine Lehre sein. Das Ja zum Brexit hat Europa zwar erschüttert, aber Großbritannien über Nacht in ein ungeahntes Chaos gestürzt.

Der inneren Spaltung könnte auch der äußere Zerfall des Vereinigten Königreiches drohen, wenn die proeuropäischen Schotten sich ihrerseits aus Großbritannien verabschieden sollten. Ein Zurück vom Mehrheitsvotum gibt es nicht mehr, trotz der Millionen Unterschriften, mit denen in den Tagen nach dem Referendum um eine neue Volksabstimmung geworben wird.

Freie Wahlen sind nun mal keine Sandkastenspiele. Ihre Ergebnisse sind verbindliche Handlungsanweisungen an die Politik. Eine knappe Mehrheit der Briten hat sich nur allzu gern einlullen lassen von den dreisten und doch so durchschaubaren Lügen der Austrittspopulisten: Alle wirtschaftlichen Vorteile Europas bei gleichzeitigem Rückzug in die vermeintliche Wärmestube Nationalstaat, der doch nur geistige, kulturelle, wirtschaftliche und moralische Verzwergung bedeutet.

Da wurden Fakten so lange zurechtgefühlt, bis sie ins gestrige Weltbild passten und als allein seligmachende Wahrheit verkauft. Bauch statt Hirn ist ein immer stärker um sich greifendes Phänomen unserer Zeit. In Großbritannien, in Europa, in der Welt. In einem einzigen Satz des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump schimmert der ganze Wahnsinn einer mehrheitsfähig gewordenen Abkehr vom ernsthaften Diskurs auf. Trump äußerte sich vor dem Referendum: ,,Ich habe zwar nicht viel Ahnung von Europa, aber mein Gefühl sagt mir, die Briten sollen aus der EU austreten."

Die jungen Briten, an Freizügigkeit ihr Leben lang gewöhnt, fühlen auch - nämlich sich von den Alten verprellt und um ihre Zukunft gebracht. Aber gehandelt haben sie nicht, als noch Zeit dafür war. Nur 36 Prozent der 18- bis 24-Jährigen bequemten sich zur Wahlurne. Dagegen beteiligten sich 81 Prozent der 55- bis 64-Jährigen und 83 Prozent der über 65-Jährigen an der Abstimmung. Es ist landauf, landab das Geschäft der Populisten zu spalten, Hass, Wut und Angst zu schüren. Es zielt auf Zerstörung, nicht auf Gestaltung.

Als hätte es dazu noch eines Beweises bedurft, bewirbt sich der als Favorit gehandelte Brexit-Wortführer Boris Johnson nicht um die Nachfolge des scheidenden Premiers David Cameron. Er sei zu dem Schluss gekommen, nicht die Person zu sein, die die künftigen großen Herausforderungen bewältigen könne.

Sicher, wer vorwärts geht, kann auch mal auf unwegsames Terrain geraten, kann stolpern oder fallen. Aber wer rückwärts geht, sieht den Abgrund nicht. Die Briten haben es gerade vorgemacht.

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