Frischer Wind im Piratensegel

Auch zu ihrer eigenen Überraschung wird die Piraten-Partei demnächst mit 15 Abgeordneten ins Hauptstadtparlament einziehen. Kommentatoren bezeichnen sie bereits als die Kinder der Grünen, aber auch als deren größte Gefahr.

Sie versammelten eine Vielzahl gesellschaftlicher Strömungen in sich. Von ultra links bis ultra rechts, von Pazifisten über Umweltaktivisten, Moralisten bis hin zu Frauenbewegten. Sie wurden wegen der Radikalität ihrer Ansichten und ihrer basisdemokratischen Ausrichtung belächelt, verhöhnt, verachtet - und geliebt. Sie teilten sich in Fundis und Realos, sie erfanden sich selbst als Gegenentwurf zum gesetzten Bürgertum: Als Anti-Parteien-Partei wurde ihnen ein früher Tod vorhergesagt. Das ist über 30 Jahre her. Heute sind die Grünen in allen Länderparlamenten vertreten, stellen einen Ministerpräsidenten und waren Juniorpartner in der Regierung Schröder. Ihre Kernforderung, der Ausstieg aus der Atomenergie, wurde mittlerweile von Schwarz-Gelb in die Wege geleitet. Vielen gelten sie vor allem nach den Höhenflügen in diesem Jahr als die eigentliche Bürgerpartei. Das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder liegt bei 46 Jahren. Sie sind die Generation Internet, jung, unverkrampft und werden gerade von den Medien verhätschelt. Ihre Kernforderung lautet Freiheit im Netz, unbegrenzter Zugang für alle zu allen Informationen. Ihr Programm ist unfertig, in Teilen unreif, und doch haben sie am vergangenen Sonntag in Berlin sogar Nichtwähler mobilisiert. Auch zu ihrer eigenen Überraschung wird die Piraten-Partei demnächst mit 15 Abgeordneten ins Hauptstadtparlament einziehen. Kommentatoren bezeichnen sie bereits als die Kinder der Grünen, aber auch als deren größte Gefahr. Im Jahre 2006 gegründet, sind sie zwar bundesweit aufgestellt, galten aber bisher eher als Spinner. Wenn man ihnen überhaupt Aufmerksamkeit entgegenbrachte, dann in Form von Skepsis und Befremden. Das hat sich ganz plötzlich geändert. Durch die übrigen Parteien geht ein Unbehagen, denn spätestens jetzt dürfte ihnen klargeworden sein, dass sie eine Strömung vernachlässigt oder gar nicht erst verstanden haben, in der ein Medium zum Garanten für eine moderne Demokratie erhoben wird. Der Aufstand in Arabien, der auch über das Internet organisiert wurde, die Furcht der Diktatoren vor allgegenwärtiger Information gibt den Piraten sogar teilweise recht. Dennoch führt Totaltransparenz nicht automatisch zu mehr Bürgerrechten, das Misstrauen gegenüber Eliten gibt noch keine Antwort auf die Frage, welche Gesellschaft künftig denkbar ist. Freiheit braucht ein Wertefundament, aus dem sie sich ableitet. Die Grünen bauten auf einem solchen Fundament auf. Noch fehlt es den Piraten an inhaltlicher Substanz. Aber sie haben eine Marktlücke besetzt, treffen sie doch den Nerv einer Generation, die mit herkömmlichen politischen Ritualen und Prozessen nichts mehr anfangen kann und trotzdem mitgestalten will. Daher wäre es falsch, sie als reine Protestpartei zu deklassieren. Wenn es ihnen gelingt, aus einem Lebensgefühl ein Lebensmodell zu entwickeln, dürften sie langfristig eine Chance haben - auch außerhalb Berlins.

Isabell Funk, Chefredakteurin

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