"Gnade": Von Schuld und Sühne am Ende der Welt

Für Nils (Jürgen Vogel), Maria (Birgit Minichmayr) und den gemeinsamen Sohn Markus (Henry Stange) geht es an den Rand der Zivilisation: ins norwegische Hammerfest, eine der nördlichsten Städte der Welt.

 Jürgen Vogel in Matthias Glasners Film „Gnade“. Foto: Berlinale

Jürgen Vogel in Matthias Glasners Film „Gnade“. Foto: Berlinale

Nils arbeitet dort als Ingenieur, Maria als Krankenschwester. Die Auswanderer, um deren Beziehung es nicht zum Besten steht, ahnen nicht, welch harte Prüfung auf sie wartet. Nach der Schicht fährt Maria ein Mädchen tot - und begeht Fahrerflucht, für die es keine Zeugen gibt. Nils und Maria behalten das dunkle Geheimnis für sich. Es entwickelt sich ein Familiendrama um Schuld, Sühne und Vergebung.

Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr spielen intensiv. Ihre Rollen sind stereotyp geschnitzt. Nils ist ein Rüpel, der den Kollegen beschimpft und die Kollegin vögelt. Maria ist die empathische Krankenschwester, die sich auch für Doppelschichten einspannen lässt. Ausgerechnet sie lädt große Schuld auf sich, indem sie das Mädchen tötet. Die Eheleute teilen das Schicksal, denn Niels sucht noch in der Nacht nach dem Opfer, das zunächst schwerverletzt überlebte. Ohne Erfolg. Und Maria lässt ihren Mann entscheiden, ob sie sich stellen oder nicht. Die Frage nach Schuld und Sühne ist damit gestellt, denn beide tragen schwer an dem Erlebnis.
Über ihr Schicksal finden die beiden Partner wieder zusammen. In der Beziehung, die vorher so kalt war wie die arktische Polarnacht, regt sich was. Das Glück im Unglück. Und so plätschert der Streifen etwas seicht dahin. Großartige Einstellungen mit beeindruckenden Aufnahmen der schroffen Natur, unterlegt mit samischen Gesängen, geben dem Film eine Ästhetik, der man sich kaum entziehen kann. Die deutsch-norwegische Produktion gibt zudem einen überraschend authentischen Einblick in norwegische Lebensart und Kultur: Kleinstädtische Intimität. Liebe zur Natur. Untreue Ehepartner. Mitgefühl. Die Menschen rücken zusammen, wenn es tags nicht mehr hell wird.
Regisseur Mathias Glasner hat einen guten Film gemacht. Aber um großartig zu sein, fehlt etwas. Denn kurz vor dem Ende kommt es zur entscheidenden Szene. Nils und Maria versuchen, sich ihrer Schuld zu entledigen. Glasner verpasst seinem Werk ein fast kitschiges Happy End. Dabei wäre es so unerträglich spannend gewesen, die großen Fragen nach Schuld, Sühne und Vergebung unbeantwortet zu lassen, die in der alles entscheidenden Sequenz nur angekratzt werden. Denn wer kann diese Last schon tragen, wirklich zu vergeben? Wie zerreist es die Menschen? Immerhin lässt Glasner Gott aus dem Spiel. Seine Botschaft ist klar: Vergebt einander. Doch Gnade ist ein großes Wort.

Tobias Thieme

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