Hirn und Herz

Immer wenn Deutschland wie jüngst in der Griechenlandfrage eine Führungsrolle innerhalb Europas übernahm, war es wieder da: das Misstrauen anderer EU-Staaten gegenüber einer Nation, die vielen auch über 70 Jahre nach den Weltkriegsgräueln immer noch nicht ganz geheuer ist.

Die Einheit gemeistert und daran gewachsen, inmitten der Euro-Krise wirtschaftlich blendend aufgestellt, eine schwarze Null im Haushalt. Bei alledem oft hart gegen sich selbst und unbeugsam gegenüber anderen. Der Streber, der Musterschüler mit viel Ehrgeiz und wenig Herz.

Und ausgerechnet diese Deutschen wollen in der Flüchtlingskrise mit Humanität vorangehen? Nein, sie wollen es nicht nur, sie tun es bereits. Den schlimmen Bildern von Ausschreitungen gegen Asylsuchende stehen plötzlich andere gegenüber. Scharen von Menschen, die Kriegsflüchtlinge an Bahnhöfen in München, Saalfeld oder Düsseldorf willkommen heißen. Spitzenpolitiker wie Bundeskanzlerin Angela Merkel oder Vize Sigmar Gabriel, die in schwierigen, manchmal überfordernden Situationen Zuversicht verbreiten.

Auch wenn die Kommunikation und Koordination zwischen Bund und Ländern dringend verbessert werden muss, rücken Parlamentarier aller Farben angesichts dieser Jahrhundert-Herausforderung enger zusammen. Und die Bevölkerung ist in ihrer großen Mehrheit bereit, für Menschenrechte einzustehen.

Diese korrekten Deutschen haben sogar gegen EU-Regeln verstoßen, auf die sie selbst noch bis vor kurzem - und zwar zur Abwehr von Flüchtlingen - gepocht haben. Als die Kanzlerin am Wochenende kurz entschlossen das Dublin-Abkommen aushebelte, das die Registrierung von Flüchtlingen im ersten Ankunftsland vorschreibt, und Hilfesuchenden von Budapest aus unbürokratisch die Einreise nach Deutschland erlaubte, war sie zutiefst inkonsequent. Das hält ihr auch die CSU vor. Aber was ist in einer Situation, die zu eskalieren droht, schon richtig oder falsch? Handeln oder zaudern und diskutieren?

Und schon wieder irritieren wir andere EU-Staaten, die Zäune und Wasserwerfer für die bessere Antwort auf die Flüchtlingskrise halten. Ein britischer Politologe spricht uns im Interview mit dem Deutschlandfunk gar das Hirn ab. So, als seien Empathie und Verstand unvereinbare Gegensätze. Lassen wir uns unser Engagement also nicht kleinreden.

Während einige EU-Mitgliedsländer auch nach der beeindruckenden Standpauke von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker immer noch glauben, Europa sei eine geschlossene Gesellschaft, in der Nehmen seliger denn Geben sei, stellen sich andere, darunter das weltoffene Schweden, ihrer Verantwortung. Ja, Aufnahme und Integration von Flüchtlingen sind große, lang andauernde Aufgaben. Es wird Rückschläge geben und Frustrationen. Es werden auch Fehler passieren. Und nein, wir wollen uns nicht an eigener Großartigkeit berauschen und den Moralapostel spielen. So weitermachen und andere Europäer zu fairen Bedingungen in die Bewältigung dieser Aufgabe miteinbeziehen, reicht. Denn wenn die Idee von Europa als Werte- und nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft wirklich jemals ernst gemeint war, dann ist jetzt die Zeit gekommen, es zu beweisen.

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