Ja zu Europa

Der Sieg der bärtigen österreichischen Travestiekünstlerin Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest waberte noch die ganze Woche über durch die öffentliche Diskussion. Er füllte nicht nur Klatschspalten, sondern prägte, fast verklärend, auch die politische Debatte.

So, als wäre der größte Teil Europas über Nacht zum Hort von Respekt und Toleranz geworden. Dass sich Russland, dessen rigides Homosexuellen-Gesetz vor allem im Westen für harsche Kritik sorgt, von Wursts Erfolg provoziert fühlt, war ja durchaus beabsichtigt. Und auch die schrille Replik aus Putins Umfeld, der Westen verfalle einem ,,vulgären Ethno-Faschismus", war voraussehbar. Aber lassen wir die Kirche mal im Dorf und die Symbolik beiseite. Wie respektvoll und tolerant wir Europäer tatsächlich mit- einander umgehen, werden wir nach der EU-Wahl am 25. Mai sehen. Experten erwarten ein deutliches Anwachsen rechtspopulistischer Parteien und linksextremer Gruppen, die Europa eigentlich abschaffen wollen. Das hat zwar auch etwas mit dem schwer vermittelbaren europapolitischen Kurs der Vergangenheit zu tun, mit der noch nicht bewältigten Krise, mit Überbürokratisierung und Regulierungswut. Das alles sind Einfallstore für Ressentiments, deren Wurzeln allerdings in den Nationalstaaten zu suchen sind. Erinnert sei beispielsweise an die Panik schürende Einwanderungsdebatte in Westeuropa, als Anfang des Jahres auch Rumänien und Bulgarien (seit 2007 volle EU-Mitglieder) unbegrenzten Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt erhielten. Das waren keine extremen Parteien, die diese Debatte - in Deutschland unter dem Begriff Armutseinwanderung - führten, sondern etablierte. Und, sind wir überrannt worden? Nein. Eine diese Woche veröffentlichte Bertelsmannstudie kommt - wenig überraschend - zu dem Ergebnis, dass viele Deutsche Zuwanderung noch immer als Bedrohung empfinden, obwohl gerade in den Bundesländern mit den höchsten Ausländeranteilen die Bürger am engsten zusammenhielten. Und obwohl, das wissen wir gerade hier in der Region Trier mit nahezu erreichter Vollbeschäftigung besonders gut, wir Zuzug brauchen, um Gastronomie, Handwerks-, Handels- und Industriebetriebe, Pflege und medizinische Leistungen auf Dauer aufrechterhalten zu können. Eine aktuelle Umfrage der Trierer IHK belegt, dass die Fachkräftesicherung derzeit die größte strukturelle und konjunkturelle Herausforderung ist. Aber diffuse Ängste, vielleicht auch die ein oder andere schlechte Erfahrung machen anfällig für diese armselige ,,das-Boot-ist-voll"-Rhetorik, der wir in diesen Tagen gelegentlich auf Wahl-Plakaten begegnen. Respekt und Toleranz - das sind große Worte. Viel gebraucht. Und schon ein bisschen verbraucht. Es sind moralische Kategorien, denen man leicht mit Emotionalität und Hetze begegnen kann, wenn Argumente fehlen. Europa ist ebenso wenig wie seine Mitgliedsländer ein statisches Gebilde. Es hat noch Konstruktionsfehler, es muss, es wird sich verändern und weiterentwickeln. Es wird nicht überall gleich stark sein können, aber im Zusammenschluss stärker als seine einzelnen Nationen. Und eines garantiert es heute schon weitestgehend: die Freiheit seiner Menschen, egal welcher Mentalität, welchen Glaubens oder auch welcher sexueller Ausrichtung. Toleranz und Respekt im Umgang mit- einander sind dagegen durchaus noch ausbaufähig.

Isabell Funk, Chefredakteurin

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