Arme, schwache SPD

In Berlin wird bereits gewettet, wann der gestern gewählte erste grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann entzaubert sein wird - schon in sechs Wochen oder erst in einem halben Jahr? Interessanterweise scheinen es vorwiegend Sozialdemokraten zu sein, die vom Wettfieber gepackt sind und anderes als eine rasche Ernüchterung im Ländle kaum in Erwägung ziehen. Also Mitglieder der Partei, die neuerdings hinter den Grünen als kleinerer Koalitionspartner agieren muss.


Offenbar sind viele in der SPD noch nicht in der Wirklichkeit angekommen, gerade auf der Berliner Bühne. Dort wird die Umkehrung der Positionen von Koch und Kellner nach wie vor als leidiger Betriebsunfall angesehen. Das ist sie aber nicht. Es ist das Schicksal der SPD, dass sie in den letzten Jahren vieles missverstanden hat. Auch den Umstand, dass ein Grüner nun Landesvater geworden ist und nicht wie sonst einer der ihren in einem Bündnis von Rot und Grün.
Der Wähler macht um die Genossen einen Bogen, weil sie sich am liebsten mit sich selbst beschäftigen. Inhaltlich ist diese Partei nicht zu greifen, und wer den Kurs verstehen will, sollte sich genügend Zeit nehmen, um das Dickicht an Programmentwürfen und Kommissionen zu durchschlagen. Und wo die Regierung zu stellen wäre - in der Energiepolitik, bei der Euro-Rettung oder der Bundeswehrreform zum Beispiel - kommen die Sozialdemokraten mit der Quote für Migranten daher, um den hausgemachten Sarrazin-Frust zu mildern. Das verstehe, wer will.
So ist es nur konsequent, dass die Menschen sich bei der Wohlfühlpartei Grüne besser aufgehoben fühlen. Winfried Kretschmann steht nun dafür, dass sich im Parteienspektrum Entscheidendes verschieben könnte: Arbeitet die grün-rote Koalition erfolgreich, werden die Grünen ihren derzeitigen Aufstieg zur Volkspartei erhärten. Sie könnten dann, wie einst die FDP im Bund, zum Mehrheitsbeschaffer werden - und das mit der gewandelten Union oder aber mit einem Juniorpartner SPD, der kein Mittel findet, sich aus der eigenen Sinnkrise zu befreien. Ähnlich unbeholfen waren die Sozialdemokraten übrigens schon einmal: Als die Linke aufkam, waren sie wie paralysiert. Statt auf Abgrenzung zu setzen, haben sie fortan versucht, linker als die Linke selbst zu sein. Unter den Folgen dieser Idiotie leidet die SPD heute noch.
Wenn in Baden-Württemberg die Operation Grün-Rot gelingt - und trotz aller Unkenrufe spricht derzeit noch mehr dafür als dagegen - wächst die Wahrscheinlichkeit, dass in anderen Bundesländern weitere grüne Kretschmänner folgen.
Arme, schwache SPD. Der Partei droht ein viel längeres Kellner-Dasein, als sie glaubt.

nachrichten.red@volksfreund.de

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