Der ernüchterte Präsident

Amerikas Bürger haben ein kurzes Gedächtnis - und, wie die derzeitigen Umfragen zeigen, wenig Geduld. Deshalb hatten die meisten längst jenen Kernsatz vergessen, den Barack Obama schon 2008 ausgesprochen hatte: Er werde niemals ein perfekter Präsident sein.


Damit wollte Obama überzogenen Erwartungen vorbeugen, die er durch seine "Hope and change"-Rhetorik geweckt hatte. Und deshalb konnte er auch am Donnerstagabend in Charlotte feststellen, ohne einen Widerspruch zu erzeugen: Der Pfad in die Zukunft, die er anbiete, werde nicht leicht sein. Denn er werde mehr als ein paar Jahre brauchen, Herausforderungen zu lösen, die sich über eine Dekade aufgebaut hätten.
In diesen Kernsätzen spiegelt sich der Pragmatismus wider, den sich Obama seit seinem Amtsantritt verinnerlicht hat. Denn Washington, das ist schon seit langem ein Haifischbecken, in dem selbst wohlmeinendste Reformer und Brückenbauer schnell an ihre Grenzen stoßen.
Keine Frage: Der politisch wenig erfahrene Obama hatte die Tiefe der Gräben unterschätzt, die Amerikas Konservative und das linksliberale Lager trennen. Dieser Fehler hat Obama auf den Boden der Realität zurückgebracht.
Nun versprach er, in seiner wichtigsten Rede vor den Wahlen im November, mit nüchterner, staatsmännischer und teilweise selbstkritischer Ernsthaftigkeit wieder viel - aber bat gleichzeitig drängender als je zuvor um Geduld und mehr Zeit. Das Recht dazu hat er.
Denn so schlecht wie es die Republikaner darstellen, ist seine Bilanz nicht: Die Wirtschaftslage hat sich zwar nicht deutlich erholt, aber immerhin stabilisiert.
Er leitete das Ende von zwei Kriegen ein, erließ neue Banken-Spielregeln, ordnete den Tod Osama bin Ladens an, half beim Sturz Gaddafis und drückte mit der Gesundheitsreform ein Jahrhundertwerk durch. Und: Er ist - anders als Mitt Romney - mittlerweile ein beschriebenes Blatt, was die Innen- und Außenpolitik angeht.
Zwar ließen auch der Parteitag von Charlotte und die Reaktionen auf seine Rede durchblicken, dass die Euphorie seiner Anhänger geschrumpft ist. Aber auch das, was sich diese und die so wichtigen Wechselwähler in einer zweiten Amtszeit erhoffen, dürfte sich mehr und mehr an der Realität und nicht an hochfliegender Rhetorik von einst orientieren.
Das könnte reichen, wenn am 6. November die Stimmen ausgezählt werden, gegen einen konservativen Herausforderer, dessen Positionen immer noch seltsam unscharf sind - und der sich weiter gegen den Makel wehren muss, nur die Interessen von Amerikas Reichen zu vertreten.
nachrichten.red@volksfreund.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort