Die Freizeit, das unbekannte Wesen

Nun schau mal einer an: Seit Jahren predigen uns die Trend-Scouts und Zeitgeistexperten, Fernsehen sei out, bestenfalls bei Senioren gefragt. Und Radio noch viel outer, nur noch was für notorische MP3-Verweigerer.

Und erst die gute alte Tageszeitung - so was von mega-out im Zeitalter des Internets. Und überhaupt habe keiner mehr Zeit für Muße oder Familie.
Und dann so was: Die Lieblingsbeschäftigungen der Deutschen sind laut Freizeit-Monitor 2013 Fernsehen, Radio hören, Zeitungen lesen. Gefolgt von Nichtstun, seinen Gedanken nachhängen und sich mit der Familie beschäftigen.
Was lehrt uns das? Erstens: Man muss nicht jedem Gaukler hinterherlaufen, der neue Trends immer gleich als gesellschaftliche Umwälzung verkauft. Zweitens: Man darf das Beharrungsvermögen der Menschen nicht unterschätzen, es dauert oft Generationen, bis sich bestimmte Verhaltensweisen ändern. Drittens: Man sollte immer mit der Möglichkeit rechnen, dass die Leute anders reagieren, als man vermutet.
Denn eines lässt sich an den Ergebnissen der neuesten Freizeitstudie, aber auch an den Beobachtungen von Experten wie dem Trierer Soziologen Waldemar Vogelgesang ablesen: Wenn das Arbeitsleben immer effizienter, verdichteter, zielgerichteter, optimierter wird, dann muss das keineswegs - wie bislang meist vermutet - eine ähnliche Entwicklung in der Freizeit nach sich ziehen. Möglicherweise sucht das Publikum in solchen Zeiten eher nach Muße als nach Events. Nach der Vertiefung alter statt ständiger Erfindung neuer Reize. Nach Entspannung statt Perfektion.
Wir aber haben in den letzten zwanzig Jahren auch das Freizeitrad immer schneller gedreht. Events, Events, Events, Spektakel in Höchstgeschwindigkeit, die schnelle Nummer, all inclusive. Und jetzt merken wir nach jahrelanger Hetze auf der Hightech-Achterbahn und dem Freefall-Tower, dass Schiffschaukel und Kettenkarussell auch ihren Charme haben.
Eine kluge Gesellschaft würde das als Chance begreifen. Wenn die Sehnsucht nach Entschleunigung wächst, muss man für Freizeit, Kultur, Kommunikation auch entschleunigte Formen finden. Eine intelligent organisierte Schule und ein intelligent organisierter Betrieb würden in ihre Abläufe auch Phasen des Abschaltens, der Gespräche integrieren. Aus blankem Eigennutz, denn ausgebrannte Mitarbeiter sind keine guten Mitarbeiter.
Natürlich ist auch dieser Freizeit-Monitor nur eine Moment-Aufnahme. Vielleicht sind die Trends in zwei, drei Jahren wieder ganz andere. Ein Grund mehr, sie gelassen zu sehen.
d.lintz@volksfreund.de

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