Die Schuldfrage ist komplex

Mehr als ein Jahr schon ging Christina K. nicht mehr in ihre Behindertenwerkstätte. Hatte keinen Kontakt zu Gleichaltrigen und keine Beschäftigung. Ihre einzige Bezugsperson war die Mutter, mit der sie isoliert in einer Wohnung lebte, die einer Müllkippe glich. Und dort war Christina auch, als ihre Mutter starb.

Sie verstand nicht, was passiert war. Sie war alleine. Eine zutiefst traurige Geschichte. Wie konnte es so weit kommen, obwohl mehrere Trierer Behörden wussten, unter welchen Umständen die hilfsbedürftige Frau leben musste? Warum hat niemand sie da rausgeholt? Sie selbst konnte sich doch nicht helfen!
Die Antwort ist komplex und alles andere als befriedigend. Einen Teil der Schuld trägt wohl die verstorbene Mutter, die Christina bei sich behalten wollte, die Türe nicht öffnete, zu Terminen nicht erschien und den geplanten Umzug ihrer Tochter hinauszögerte. Bis sie - für alle unerwartet - starb. Das alles hat es den Behörden erschwert zu handeln. Immer wieder standen sie vor verschlossener Türe. Und da ja geplant war, dass Christina bald auszieht, hat man die Sache nicht mit allzu viel Eifer verfolgt. Nachvollziehbar. Und doch fatal. Ganz in Unschuld waschen können sich die Behörden aber nicht. Viele, viele Male hat Christinas Tante mit der Rechtspflege beim Amtsgericht telefoniert und gefleht, jemand möge ihre Nichte da rausholen. Dabei wusste sie noch nicht einmal, dass ihre Verwandten in einer Messie-Wohnung lebten. Das hatte ihr offenbar niemand gesagt. Ebenso wenig hat man ihr beim Amtsgericht mitgeteilt, dass sie sich mit ihren besorgten Hinweisen an die Betreuungsbehörde wenden muss. Wobei ohnehin fraglich ist, warum dies nötig sein soll. Könnte man doch erwarten, dass Behörden, die den gleichen Fall bearbeiten, sich austauschen. Und kann man doch nicht verlangen, dass jemand sich im Zuständigkeitswahnsinn zwischen Amtsgericht, Gesundheitsamt, Ordnungsamt und Betreuungsbehörde auskennt. Da sind Kommunikationsprobleme doch programmiert! Dass die Stadt nun dafür sorgen will, dass man sich künftig über schwierige Fälle austauscht, ist ja schön. Unglaublich ist, dass das nicht längst schon passiert.
Einen Teil der Schuld trägt aber auch die Rechtslage, für die behinderte Mädchen in Messie-Wohnungen erstmal kein Problem sind, das ein Einschreiten ermöglicht. Solange es da nicht schimmelt und gammelt. Und solange niemand sie gefährdet oder vernachlässigt. Unglaublich! Mit gesundem Menschenverstand hat das nichts zu tun. So darf doch kein Schutzbedürftiger leben müssen! Wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch, der auf schmalen Pfaden in Bergen von Müll lebt, sich dort angemessen um ein behindertes Mädchen kümmern kann? So wertvoll die Privatsphäre auch ist - dieses Gesetz muss überarbeitet werden. Ist die Wahrscheinlichkeit doch leider hoch, dass es mit dem demografischen Wandel immer mehr hilflose Menschen gibt.
Schließlich wären da noch die Nachbarn, die nichts mitbekommen haben. Oder nichts mitbekommen wollten. Und natürlich auch nichts getan haben. Zugegeben: Das ist sehr unbequem. Doch ließe sich viel Unheil verhindern, wenn Menschen bereit wären, Verantwortung füreinander zu übernehmen.
k.hammermann@volksfreund.de

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