Erfolgreich unzufrieden

An positiven Nachrichten herrscht derzeit kein Mangel. Die fast vier Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie können sich über ein sattes Lohnplus von 4,8 Prozent freuen.

Ähnlich hoch fällt der schon vorher ausgehandelte Tarifabschluss für zwei Millionen öffentlich Bedienstete aus. Auch den 20 Millionen Rentnern winkt ein historischer Zuwachs bei den Altersbezügen. Und da geht noch mehr. Überraschend stark, nämlich um 0,7 Prozent, hat das deutsche Bruttosozialprodukt im ersten Quartal zugelegt - weit über EU-Durchschnitt. Es gibt Beschäftigungsrekorde. Trotzdem hängt eine bleierne Schwere über dem Land, ist die Unzufriedenheit mit Händen zu greifen. Warum eigentlich?
Zum einen, weil der persönliche Wohlstand zerbrechlicher geworden ist. Wer zum Beispiel im fortgeschrittenen Alter arbeitslos wird, hat kaum Chancen, wieder einen ordentlichen Job zu finden. Und die Chiffre Hartz IV wirkt wie eine düstere Prophezeiung. Selbst für jene, die damit nie in Berührung kommen dürften. Aber die Verunsicherung ist da. Und sie erzeugt Ängste.

Mit diesen Ängsten, das ist die andere Seite der Erklärung, wird politisch gespielt. Je komplizierter die Welt wird, desto mehr sehnen sich viele Menschen nach einfachen Lösungen. Je mehr Informationen auf sie einprasseln, umso weniger können viele damit umgehen. Das machen sich Rechtspopulisten zunutze. Und etablierte Parteien in ihrer Ratlosigkeit spielen das Spiel auch noch mit.

Der Sozialstaat sei gar keiner mehr. So lautet eine der Thesen, die Links wie Rechts derzeit propagieren. Das wäre Anfang der 2000er Jahre zutreffender gewesen. Damals gab es in Deutschland fünf Millionen Arbeitslose und immer klammere Sozialkassen. Dass sich die Lage wieder zum Besseren wendete, verdankt sich zum großen Teil genau jenen rot-grünen Agenda-Reformen, bei denen die SPD trotzdem noch das schlechte Gewissen plagt.

Um es zu beruhigen, wird zum Beispiel eine Debatte über Altersarmut vom Zaun gebrochen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Auch manche Medien spielen eine unrühmliche Rolle.

So hat der WDR kürzlich "vorgerechnet", dass 2030 fast jedem zweiten Bundesbürger Altersarmut droht, dabei aber einfach die Löhne der heutigen Azubis fortgeschrieben und Haushaltseinkommen mit individuellen Einkommen verwechselt. Dennoch wurde der Unsinn zum Beleg für schlimmstes Rentnerelend.

Auch Wissenschaftler sind vor Irrtümern nicht gefeit. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung immerhin hat seine zuletzt ebenfalls viel beachtete Studie über das Schrumpfen der Mittelschicht im Nachhinein offiziell korrigiert. Die neuen Zahlen sind weit weniger dramatisch als die alten.

Das passt zum Gesamteindruck: Ein halbes Glas Wasser kann man zwar als halb voll oder halb leer betrachten. Aber wohl nur die Deutschen sind dazu fähig, über ein fast volles Glas zu lamentieren. nachrichten.red@volksfreund.de

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