Gegen Barrieren auf die Barrikaden

Es ist eine Revolution, was da in Sachen Inklusion auf uns zukommt. Es geht um ein neues Denken.

Jahrzehntelang haben wir gelernt, dass es Normale gibt und Behinderte. Als gutmeinende Menschen haben wir den Schutz für die vermeintlich Schwachen verbessert, behütende und betreuende Biotope geschaffen, die den ganzen Lebenslauf abdecken.
Und nun gibt es die UN-Konvention, die besagt: Es gibt eigentlich keine Behinderten. Ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch. Basta. Jeder hat seine Eigenarten. Dazu kann auch gehören, dass man schlechter läuft, hört oder sieht als die meisten. Oder dass der Kopf anders funktioniert. So wie andere vielleicht aufbrausender sind oder ruhiger, sportlicher oder fauler. Kein Grund, jemanden auszuschließen. Jedenfalls, wenn er mitten in der Gemeinschaft leben will und kann. In der Schule, beim Wohnen, im Job, in der Freizeit. Es ist Aufgabe der Gesellschaft, Barrieren wegzuschaffen und Hilfen da zu organisieren, wo die Betroffenen sie haben wollen.
Das ist eine ambitionierte, sehr humane Idee, die erstaunlicherweise von 100 Staaten der Welt mit Gesetzeskraft ausgestattet worden ist. Denn es geht nicht mehr um einen Bonus, der nach Kassenlage gewährt wird, sondern um ein verbrieftes Recht. Und wenn die Inklusion keine Fortschritte macht, wird es nicht lange dauern, bis die Ersten sie einklagen.
Freilich braucht man für die Umsetzung auch Augenmaß. Gemeinsame Schulen für alle, Wohnen im Stadtviertel statt im Heim, erster Arbeitsmarkt statt Werkstatt: Das wird für viele eine Option sein, aber nicht für alle. Wo sich Eltern oder Betroffene für eine klassische Behinderteneinrichtung entscheiden, müssen sie das tun dürfen, ohne dass man ihnen eine ideologische Grundsatzdebatte aufzwingt. Es werden zwei Systeme nebeneinander existieren, und beide haben ihre Berechtigung. Es kommt darauf an, die Übergänge fließend zu gestalten.
Man wird den Paradigmenwechsel zur Inklusion nicht auf allen Ebenen gleichzeitig einleiten können. Angesichts beschränkter Mittel muss planvoll und nach klar durchdachten Prioritäten vorgegangen werden. Wer etwa die Bereitstellung von Plätzen für geistig behinderte Schüler in Gymnasien oben auf die Liste setzt, darf sich nicht wundern, wenn das die Akzeptanz nicht erhöht.
Aber insgesamt ist der Weg zur Inklusion nicht aufzuhalten. Und das ist gut so. Und wenn in Deutschland das große Jammern über die möglichen Kosten beginnt, sollte man sich vor Augen halten, dass die meisten der 100 Ratifizierer-Staaten entschieden ärmer sind als wir.
d.lintz@volksfreund.de

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