Herbst im Kopf

Vor 15 Jahren waren Visionäre wie der Trierer Professor Bernd Krönig noch einsame Rufer in der Wüste. Dass da mit dem Segen der höheren Lebenserwartung auch Nebenwirkungen wie die massiv steigende Zahl von Demenzerkrankungen einhergehen würden, war zwar Experten längst klar - aber das öffentliche Bewusstsein hatten sie mit ihrer Botschaft noch nicht erreicht.


Auch die Politik brauchte lange, bis sie die Dimension der Zeitbombe erkannte, die da tickt. In 30 Jahren, wenn die jetzt 50-jährigen Babyboomer die acht Lebensjahrzehnte vollenden und viele noch weitere zehn Jährchen vor sich haben, wird Demenz ein Massenphänomen sein. Nicht zwangsläufig in Form eines Rundum-Pflegefalls. Wenn wir Glück haben, mildert der medizinische Fortschritt die ärgsten Folgen ab. Aber die Krankheit wird es den Betroffenen kaum erlauben, ohne Hilfe und Betreuung auszukommen.
Die Ehepartner werden dann oft zu alt sein, um diese Aufgabe allein zu schultern. Kinder, die sich ihrer Eltern annehmen könnten, werden nicht so viele da sein - und wenn, dann haben die Anforderungen des Berufslebens sie in alle Welt zerstreut.
Das muss kein Katastrophen-Szenario sein. Jedenfalls, wenn jetzt die richtigen Weichen gestellt werden. Dabei ist die entscheidende Frage, ob es gelingt, eine Palette unterschiedlicher Hilfs-Optionen zu schaffen, die jedem Einzelfall gerecht werden. Das beginnt bei einer niedrigschwelligen Unterstützung zu Hause, geht über eine intensivere Betreuung in den gewohnten vier Wänden, über neue Wohnformen mit unterschiedlich ausgeprägter Hilfeleistung bis hin zu variablen Pflegekonzepten im Heim. Es geht nicht um Konkurrenz, es geht um die individuell beste Lösung. Und natürlich auch darum, nur da die aufwendigsten Pflegeleistungen zu erbringen, wo es wirklich notwendig und sinnvoll ist.
Die Demenz-Netzwerke sind ein vernünftiger Schritt in die richtige Richtung. Aber man muss sich darüber klar sein, dass sie nach der "Versuchs-Phase" nicht wieder eingespart werden können, sondern dass sie ausgebaut werden müssen.
Letztlich steht und fällt aber alles mit der gesellschaftlichen Akzeptanz der Krankheit. So lange man flüstert, wenn man über Demenz spricht, so lange man sich geniert, so lange Krankenhäuser, Reha- und Pflegeeinrichtungen die besonderen Bedürfnisse von Demenzkranken und ihren Angehörigen nicht erkennen, so lange wird sich das Problem verschärfen. Wir müssen lernen, umzugehen mit Menschen, die vielleicht körperlich noch topfit sind, die aber "Herbst im Kopf" haben, wie ein tolles Projekt mit Kindern und Demenzkranken in Trier heißt.
d.lintz@volksfreund.de

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