In den Händen der Basis

Nun also der Mitgliederentscheid der 474 820 SPD-Mitglieder. Im Extremfall können 47 483 Genossen die große Koalition platzen lassen, 0,05 Prozent der Deutschen.

Dennoch ist die Kritik am Mitgliederentscheid albern wie sie zuletzt Bundestagspräsident Norbert Lammert äußerte, sonst ein kluger Mann. Er meinte, eine kleine Minderheit könne nicht korrigieren, was 61 Millionen Wähler zuvor entschieden hätten.
Die Wähler haben aber in Sachen Koalitionen jedoch gar nichts entschieden. Sie haben Parteien mit ihren Programmen gewählt. Bei der SPD zum Beispiel Bürgerversicherung, Steuererhöhungen, die Abschaffung des Betreuungsgeldes. Wenn davon nun im Koalitionsvertrag komplett abgewichen wird, dann stellt sich die Frage, wer diese Abweichungen legitimiert, die viele Wähler als Verrat und Missbrauch ihrer Stimme empfinden. Bei der SPD legitimieren das immerhin alle Mitglieder. Bei CDU und CSU, deren Wähler zum Beispiel nun den immer abgelehnten gesetzlichen Mindestlohn bekommen, entscheidet am Ende jeweils nur eine Person: Angela Merkel und Horst Seehofer.
Der aus Not und Angst geborene SPD-Mitgliederentscheid setzt Maßstäbe: Die Politik der Hinterzimmerrunden ist vorbei. Ganz sicher für künftige Koalitionsbildungen. Damit auch der Politikstil Seehofers und Merkels. Es gab dafür schon vor zwei Jahren ein Vorzeichen, die Mitgliederabstimmung in der FDP über die Euro-Rettungspolitik. Die Grünen haben so im Sommer ihre Spitzenkandidaten bestimmt. Und auch in der Union grummelt es; in einigen Landesverbänden müssen wegen der Koalitionskompromisse Regionalkonferenzen durchgeführt werden. Es gehört zu dieser Entwicklung auch die größere Transparenz von Politik, das Veröffentlichen von Beschlüssen und Verträgen, die Öffentlichkeit von Beratungen. Die Piraten-Partei, so wenig sie bewegt haben mag, hat zu dieser Veränderung ebenso beigetragen wie zuvor die Grünen.
Das ist der Zug der Zeit, den die Union gerade nicht nur innerparteilich verpasst, sondern mit ihrem strikten Nein zu mehr Volksabstimmungen auch programmatisch.
Ob Stuttgart 21 oder die gescheiterte Olympia-Bewerbung Münchens - mal geht ein Bürgerentscheid gut aus für die Regierenden, mal nicht. Es gibt jedenfalls keinen Grund, Angst vor ihm zu haben. Auch nicht vor dem Votum der absolut unbekannten und absolut unberechenbaren SPD-Basis, die jetzt zwischen Bauchgefühl und Verstand schwanken wird. Aber selbst wenn sie Nein sagt, geht die kleine deutsche Welt noch lange nicht unter. Neuwahlen sind das Schlimmste, was passieren kann. Aber wären sie wirklich so schlimm?
nachrichten.red@volksfreund.de

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