Kein Grund zur Beruhigung

Das Beunruhigende an den Flüchtlingszahlen des Jahres 2016 ist, dass sie so sehr beruhigen. 280 000, das ist abzüglich der Sonderentwicklung der ersten Monate ziemlich genau jener laue Grad an humanitärer Leistung, den selbst ein Horst Seehofer dem Land zuzumuten bereit ist.

Rund 0,25 Prozent zu Versorgende bezogen auf die Gesamtbevölkerung, das schaffen wir.
Die Zahl verdeckt die Umstände, mit der sie erreicht wurde. Zu nennen sind zuallererst die Gestrandeten auf der Balkan-Route - die Letzten beißen die Hunde, jetzt gerade beißt sie die Kälte. Dass für diese sehr überschaubare Gruppe nicht nachträglich eine humanitäre Lösung gesucht wird, ist eine Schande für Europa, auch für die bis dahin vorbildliche deutsche Flüchtlingspolitik. Zu den unschönen Umständen gehört auch der komplette politische Zerfall des Kontinents in einer wichtigen Wertefrage. Erkauft wurde die neue Zahl außerdem mit einem Pakt, der umso mehr zum Pakt mit dem Teufel wird, je mehr Erdogan zum Diktator mutiert.
Wirklich erfolgreich ist nur, dass die Unfähigkeit und die partielle Blauäugigkeit der Behörden in Deutschland beendet wurden. Man hat nun Personal genug, um die Verfahren schnell und effektiv durchzuführen, man hat auch nachgeschärft, um Missbräuche besser aufzudecken und die Kontrolle über die Einreisenden zurückzugewinnen. Und man ist dabei, die Rückführung abgelehnter Bewerber besser zu organisieren, um jenen umso mehr Integrationsmöglichkeiten zu geben, die lange oder gar auf Dauer hier bleiben werden. Die Lernkurve verlief hier sehr steil, und das war auch nötig.
Denn das Flüchtlingsthema wird dieses Land, wird diesen Kontinent nicht so bald loslassen. Es gibt auf dieser Welt keine Insel der Seligen; das Desaster Afrikas, wo schon Hunderttausende warten, die Scharmützel des Nahen Ostens, die Auseinandersetzungen in der Ukraine, Entwicklungen in der Türkei oder in Zentralasien, all das wird dafür sorgen, dass der Migrationsdruck auf Europa hoch bleibt und je nach Lage sogar noch wächst. Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte ihn mit Zäunen abwehren. Das ist nur das erste Netz, an dem lediglich die scheitern, die sich bessere Schleusungen nicht leisten können.
Wie Europa mit dem Problem dauerhaft gemeinsam und solidarisch umgeht, bleibt die wichtigste aller Fragen. Und dann, was Europa tun kann, um den Herkunftsländern zu helfen. In beiden Punkten ist man nur minimal vorangekommen.
Es gibt in dieser Situation keine größeren Einfaltspinsel als die, die wegen einer momentan eingehaltenen "Obergrenze" denken, das Problem existiere nicht mehr. 2015 hat das Flüchtlingsthema mit Wucht auf die Tagesordnung Europas gesetzt, 2016 hat es nicht gelöst. Das ist die Bilanz.
nachrichten.red@volksfreund.de

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