Kein Untergang des Abendlands

Nun haben wir ihn, den Hitler aus Wachs. Als Comic und Komödien-Filmheld war er schon da, und als Hauptfigur zahlloser „Dokus“ kommt man eh nicht an ihm vorbei. Und nun der Untergang des Abendlandes, verschuldet durch Madame Tussaud, wie die Bild-Zeitung, ein paar eilfertige Politiker aller Fraktionen und Michel Friedman propagieren?

Gemach. Man muss den Blick auf den Führer im Rahmen einer Show nicht für die Krönung guten Geschmacks halten. Aber das gilt auch für Jack the Ripper oder Stalin, die sich im Londoner Original-Kabinett hohen Interesses erfreuen – wie übrigens auch Hitler, obwohl die Engländer, die er mit Bomben bewerfen ließ, nun wahrlich allen Grund zur Empfindlichkeit hätten.

Wir Deutschen haben Hitler in den 50 Jahren nach seinem Tod mit einem doppelten Tabu umgeben. Zunächst, in der Nachkriegs-Zeit, mit dem Tabu des Verschweigens. Es hatte ihn eigentlich nie gegeben, und wenn, dann als außerirdisches Unglück, das auf unser unschuldiges Land niedergeprasselt war. Und ab 68, als logische Reaktion, das Gegenteil: Da gab es nur noch Hitler als Bezugspunkt der deutschen Geschichte und alle Zeitgenossen als Verdächtige.

Da konnte kein rationales, von Einsicht geprägtes Geschichtsverständnis entstehen. Es blieb nur Krampf. Aber Hitlers Machtergreifung ist von einem heute 20-Jährigen historisch so weit entfernt wie Bismarck von uns Mittel-Alten. Diese Zeit wird als abgeschlossene Geschichte empfunden, und damit auch reif für Persiflage, Kunst oder Museum.

Wer will, dass die nachwachsende Generation das Wissen um die Schrecken der Nazi-Zeit nicht verliert, der muss sie nicht vor einer (keineswegs heroisierenden) Hitler-Darstellung in einer Wachsfiguren-Schau bewahren. Er muss dafür sorgen, dass in den Schulen erzählt wird, was damals passierte. Nicht nur abstrakt, sondern – wo noch möglich – mit Zeitzeugen. Er muss dokumentieren, dass es heute noch viele Menschen in Israel und anderswo gibt, die KZs am eigenen Leib erlebt oder dort ihre Familie verloren haben. Und dass wir dafür – nicht als Individuen, aber als Gesellschaft – ein Stück Verantwortung tragen.

Wer das begriffen hat, wird sich beim Vorbeimarsch an der Wachsfigur im Pappmaché-Führerbunker schon die richtigen Gedanken machen.

d.lintz@volksfreund.de

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